Unerklärter Ausnahmezustand in der Westsahara

Ralf Streck 18.11.2005 09:17 Themen: Militarismus Repression Weltweit
Marokkos Sicherheitskräfte gehen mit brutaler Gewalt gegen Demonstranten in der Westsahara vor. Proteste der Bevölkerung, um den 30. Jahrestag der Besetzung des Gebiets durch Marokko, werden blutig unterdrückt. Marokko hat weitere 4000 Militärs in die Region geschickt.
Um den Jahrestag am 14. November haben sich die Konfrontationen mit den Sicherheitskräften verstärkt. Die Saharaouis fordern, endlich das Referendum über die Unabhängigkeit durchzuführen, das die Basis der Waffenruhe mit der Befreiungsfront Polisario war. Seit 1991 verhindert Marokko die Durchführung, die von der Minurso-Mission der UNO überwacht werden soll.

Angeheizt wurden die Proteste, nachdem Marokko einräumen musste, dass ein Saharaoui, der vor zwei Wochen bei einer friedlichen Demonstration verhaftet wurde, von Polizisten totgeprügelt worden ist. Zuvor hieß es, er sei durch einen Steinwurf verletzt worden. Menschenrechtler sprechen von einem „unerklärten Ausnahmezustand“. In den letzten Tagen seien mehr als 100 Menschen allein in der Verwaltungshauptstadt El Aiun verhaftet worden. Wie üblich seien sie Folter, Misshandlungen und nun auch Vergewaltigungen ausgesetzt. 50 Wohnungen seien von Sicherheitskräften geplündert worden. Die Krankenhäuser seien durch die große Zahl der Verletzten überlastet. Marokko bestreitet die Vorgänge, unabhängige Beobachter gibt es nicht, weil die Besatzer das Gebiet seit dem Ausbruch der Proteste im Mai abgeriegelt hat. (Unten ein Interview mit einem baskischen Journalisten, der sich kurzzeitig einschmuggeln konnte).

Statt die Öffnung, ein Ende der Unterdrückung und die sofortige Umsetzung der internationalen Abkommen über die Entkolonisierung zu fordern, stützt Spanien die Politik Marokkos. Dabei hatte die Ex-Kolonialmacht beim Abzug den Saharaouis versprochen, sei in die Unabhängigkeit zu führen. Daran wurden die sozialistische Regierung am Wochenende auch von 30.000 Demonstranten in Madrid erinnert. Sie erinnerten daran, dass die Verträge von Madrid mit Mauretanien und Marokko nie juristischen Wert gehabt hätten, dafür hätten sie einen Krieg eingeleitet, der jederzeit wieder ausbrechen kann.  http://de.indymedia.org//2005/04/113562.shtml

Die Demonstranten erinnerten die spanische Regierung an ihre Versprechen, den Saharaouis bei der Erreichung ihrer Unabhängigkeit zu helfen. In einer Erklärung wurde die „Dekolonisierung der Westsahara“ gefordert. „Marokko ist als Invasor schuldig, aber Spanien ist verantwortlich für die Situation“, weil es seiner Verantwortung nicht nach käme, erklärte ein Sprecher. Zum Jahrestag der Besetzung bekräftigte der marokkanische König Mohammed VI. den Anspruch auf das Gebiet erneut.

Doch Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero lobte den marokkanischen König bei den Feiern zum 50. Jahrestag der marokkanischen Unabhängigkeit am Mittwoch, statt ihn zu kritisieren. In Rabat sprach er vom „intensiven und fruchtbaren“ Weg des Königreichs. Im Beisein von Frankreichs Ministerpräsident Dominique de Villepin kündigte er eine „aussichtsreiche Zukunft dieser jungen Nation“ an. Die „Vertiefung der Demokratie und der Freiheiten wird die beste Garantie für den Erfolg sein“, sagte Zapatero in einem Land, wo Journalisten inhaftiert und mit Berufsverbot belegt werden, wenn sie den König kritisieren.
Zapateros und Villepin legten Rabat ihre Pläne zur „illegalen Einwanderung“ vor. Marokko soll zum Vorposten gemacht werden, um Einwanderer abzufangen, bevor sie nach Europa gelangen. Die Pläne sehen auch eine Erhöhung der Finanzhilfen für Marokko vor und sollen auf dem EU-Gipfel im Dezember in Brüssel gebilligt werden. Bleibt zu erinnern, dass Marokko an der Grenze zu den spanischen Exklaven Melilla und Ceuta Einwanderer erschießt und kürzlich Hunderte in der Wüste ihrem Schicksal ausgesetzt hat.  http://de.indymedia.org/2005/10/129667.shtml

© Ralf Streck, Donostia-San Sebastian den 18.11.2005


30 Jahre Besetzung der Westsahara durch Marokko

Interview: Ralf Streck/Andoain den 27.10.2005

Die baskische Zeitung Berria ist es gelungen einen Journalisten in die besetzte Westsahara zu bringen. Seit Mai dem Ausbruch der „Intifada“ der Saharaouis verweigert Marokko Berichterstattern und offiziellen Delegationen von Politikern den Zutritt. jW sprach mit Joseba Perez.

Wie ist Ihnen die Einreise gelungen?

Ich möchte kurz die Vorgeschichte ansprechen, um unser Handeln zu erklären. Im Juni hatten wir Kristina Berasain nach El Aiun geschickt. Sie sollte sich ein Bild darüber zu machen, ob die Berichte über die wilde Repression von Seiten der marokkanischen Sicherheitskräfte stimmen. Sie wurde handgreiflich rausgeworfen. Marokko hat ihren Versuch als Verletzung der „nationalen Ehre“ bezeichnet. Alle unsere Besuchsanträge wurden auf die lange Bank geschoben.

Wie kamen sie in das Gebiet?

Ich bin als Tourist nach Casablanca geflogen und mit dem Bus in Richtung Süden gereist. Ich hatte nichts dabei, das Hinweis auf meine journalistische Arbeit gab. Auf den letzten 12 Stunden Busfahrt mussten wir zehn Kontrollen überwinden. Als Beruf habe ich immer Barmann angegeben. In Aiun wurde ich von einem Zivilpolizist verhört, dem wohl der Fahrer mitgeteilt hat, ich sei Ausländer. Außer der UNO-Mission zur Überwachung des Referendums über die Unabhängigkeit (Minurso) gibt es dort keine Ausländer. Ich wurde vernommen, konnte aber ins Hotel gehen.

Was haben sie dann unternommen?

Ich durfte mich nicht im Hotel aufhalten. Nach einer Dusche habe ich meinem Kontakt getroffen. In kürzester Zeit wollte ich möglichst viele Stimmen hören, bevor sie mich rauswerfen. Wir waren für zehn Stunden in einem Zimmer eingeschlossen, wo diverse Leute vorbeikamen, mit denen ich sprechen konnte: Vertreter von Menschenrechtsgruppen, Sprecher der Befreiungsfront Polisario. Angehörige von Gefangenen oder verschwundenen Gefangenen. Das war gut, denn schon am nächsten Morgen standen zwei Geheimdienstbeamten in der Hoteltür, um mich erneut zu vernehmen und zur Abfahrt aufzufordern.

Was sind verschwundene Gefangene?

Das ist eine marokkanische Spezialität, wir mir der Ex-Gefangene Siri Mohammed Dadash sagte, der 25 Jahre in den Kerkern verbracht hat. Viele Jahre davon war er verschwunden. Mit verbundenen Augen hielten sie ihn in einem geheimen Ort nach der Verhaftung fest. Niemand, nicht einmal er selbst, wusste wo er war. Nur die Intervention vom Präsident von Amnesty International beendete die Situation. Neben der körperlichen ist das eine harte psychologische Folter. Er war der Nelson Mandela der Saharaouis und bekam einen norwegischen Menschenrechtspreis.

Wie ist die Lage?

Unglaublich hart. Seit dem Beginn der friedlichen Proteste der Saharaouis, welche die Umsetzung des internationalen Rechts fordern, werden alle Regungen mit Gewalt unterdrückt. Mir wurden Bilder gezeigt, wie die Polizei auf Frauen und alte Leute einprügelt. Das Gebiet ist besetzt. In den Stadtteilen, wo Saharouis in einer Art Getto leben, ist Tag und Nacht Militär anwesend. In ein Flüchtlingslager vor der Stadt kam ich nicht, es ist abgeriegelt. Da Marokko mit Anreizen, höhere Löhne und keine Steuern, Leute in das Gebiet zieht, sind nur noch ein Drittel der Bewohner Saharouis. Der Großteil lebt unter widrigen Bedingungen in den Wüstenlagern.

Worum geht es bei den Protesten?

Die Beschlüsse der UNO sollen respektiert und die Volksabstimmung über die Unabhängigkeit durchgeführt werden. Das war 1991 die Basis für die Waffenruhe mit der Polisario. Seither verhindert Marokko die Abstimmung, obwohl es sogar Einigung über den Zensus gibt, mit dem zuvor die Abstimmung verhindert wurde. Die Polisario hatte akzeptiert, dass alle Abstimmen dürfen, die seit 1999 in dem Gebiet leben.

Wird es eine Rückhehr zum bewaffneten Kampf geben? Sie konnten nach ihrer Rückkehr mit deren Generalsekretär der Polisario sprechen, der zum Regierungsbesuch im Baskenland war?

Eine Sache ist, wenn die Leute mit dem Bauch sprechen. Was anderes ist, wenn sie die Lage politisch Analysieren. Sie werden so lange auf den zivilen Widerstand setzen, solange die UNO weiter offiziell auf die bisher angestrebte Entkolonisierungslösung setzt. Es ist eine Schande, dass andere Staaten mit Gewalt zur Umsetzung von UNO-Beschlüssen gezwungen werden und Marokko in der Westsahara praktisch machen kann, was es will. Spanien hat sein Versprechen nach dem Ende der Diktatur nicht eingelöst, die Unabhängigkeit der Westsahara zu garantieren. Felipe Gonzales, der das im Wahlkampf in den 80ern erneut versprochen hatte, ist heute Lobbyist für Marokko. Der sozialistische Außenminister hat es kürzlich gesagt, ein Referendum in der Westsahara würde ein politisches Erdbeben in Marokko auslösen und andere Formeln müssten gesucht werden. Seit wann lösen demokratische Vorgänge politische Erdbeben aus.

Wie geht es weiter?

Die Lage wird sich um den 14. November zuspitzen. Denn dann steht der 30. Jahrestag der Besetzung durch Marokko nach dem spanischen Abzug an. Zudem ist mit dem Tod von einem der hungerstreikenden Gefangenen zu rechnen, die für bessere Haftbedingungen eintreten.
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Ergänzungen

Zusatz

Radler 18.11.2005 - 14:12
Also die Darstellung der Einreise halte ich fuer uebertrieben. Ich bin mit dem Fahrrad durchgefahren (bin nun in Senegal), zwischenzeitlich auch getrampt, musste mich sicherlich bei Strassenkontrollen den Fragen nach Herkunft, Beruf und Zielort stellen (es ist immerhin Kriegsgebiet im Waffenstillstand, die Massnahme also verstaendlich), konnte aber von Polizei unbehelligt zelten, wo ich wollte und hatte alle Freiheiten eines Reisenden. Was mich allerdings schockierte, waren die Slums in Dakhla oder Boujdour, Arme aus Grossstaedten wie Marrakesch wurden in Tausenden in Lastern hergekarrt und in vom Staat aufgestellte Lehmbaracken verfrachtet, hier bekommen sie frei Kost und Logis und werden der Weltoeffentlichkeit als stimmberechtigte Saharawis praesentiert. Die Hygienezustaende in den Slums sind denkbar schlecht, Wolken von Fliegen in Sandstaub, ein Bildungsniveau gibt es nicht, natuerlich kein fliessend Wasser, einige Huetten hatten Strom, ich behaupte die meisten nicht. In den drei Monaten seit Nordmarokko bin ich kein einziges Mal, in der Westsahara vier Mal, von Kindern bestohlen worden, die in solchen Mengen angerannt kamen, dass ich mich nicht dagegen wehren konnte, dass sie Sachen unterm Gepaeckgummi wegpflueckten. Ansonsten sei aber betont, dass die Staedte in der Westsahara durch die gewaltigen Finanzspritzen des marokkanischen Staates mondaene, "moderne", Verwaltungszentren sind. Ueber die Lager der Saharawis kann ich nichts sagen. In Laayoune (oder El Aiun, wie es im Text heisst) gibt es aber sehr wohl Auslaender, zum Beispiel mich oder andere Touris, die von der Polizei im Wesentlichen in Ruhe gelassen werden, wie mein Eindruck war - Touris haben eine Art Sonderstatus in Marokko, nicht den Hyperstatus der Reichen oder Einflussreichen, die formales Recht transzendieren koennen, aber deutlich mehr Freiheiten als die uebliche marokkanische Bevoelkerung. Danke fuer die Darstellung der Behandlung politischer Gefangener, dass das Referendum lange aussteht, sollte allen klar sein, die marokkanische Regierung faehrt eine Hinhaltetaktik. SozialistInnen in Marokko sind uebrigens oft linksnationalistisch und betrachten die Westsahara als marokkanisch, was sie geschichtlich begruenden.