Antirassistische Aktionen (in Berlin) Teil 2

freyaflutenundderchipinimob 01.11.2005 22:22 Themen: Antirassismus
Auch supa selbstgeschriebener Bericht über die Aktivitäten der „Initiative gegen das Chipkartensystem“ der letzten Monate in Berlin, weil wir zeitnahe Berichte einfach nicht geschafft haben: Podiumsdiskussion in Spandau (Teil 2)!
Teil 2: Podiumsdiskussion in Spandau:

Spandau und Reinickendorf sind die letzten beiden Bezirke in Berlin, die Flüchtlingen und MigrantInnen immer noch die gekürzte „Hilfe zum Lebensunterhalt“ nicht in Bargeld, sondern auf Chipkarten auszahlen. Während es vor circa 2 Jahren wenigstens noch 64 Läden gab, die diese Form der Bezahlung akzeptierten, sind es mittlerweile nur noch 24 Geschäfte in ganz Berlin, die von dem System profitieren. Was erst einmal positiv klingt, bedeutet für die Betroffenen unverhältnismäßig weite Wege bei jedem Einkauf und zwingt sie, ihre maximal 40 Euro Bargeld (das so genannte „Taschengeld“) fürs Milchkaufen der BVG (Berliner Verkehrsnetz) in den Rachen werfen zu müssen.
In Spandau sind circa 70 Familien und Einzelpersonen von diesem System staatlicher Diskriminierung betroffen, das die CDU/FDP -regierte BVV (Bezirksverordnetenversammlung) mit allen Mitteln verteidigt. Um erfolgreich weiter an unserer Kampagne neuer Aktionsformen zu stricken, hatten wir uns im Sommer entschlossen, in Spandau eine Diskussionsveranstaltung in Zusammenarbeit mit dem Migrations-und Integrationsrat Spandau zu organisieren, um die Bevölkerung und ParteienvertreterInnen vor Ort zu informieren bzw. zu einer Stellungsnahme herauszufordern.

Am 19.10.2005 folgten dann auch über 50 Menschen unserer Einladung unter dem Motto: "Diskriminierung von Flüchtlingen in Spandau?!“. Die Zusammensetzung war relativ heterogen: ein großer Teil waren Betroffene und vom Integrationsrat mobilisierte Menschen, die somit mit der Materie zum Teil unangenehm genau vertraut waren, aber es gab auch interessierte BürgerInnen und eine Fraktion der Jungen Union, die ihrem Idol Arndt Meißner (CDU) Beifall klatschen wollten. Auf dem Podium saßen eine Betroffene, eine Vertreterin des Integrationsrates, je eine Abgeordnete der Linkspartei und der GRÜNEN, ein Vertreter der SPD, FDP und CDU. Im Vorfeld waren wir uns unsicher gewesen, ob wir den Leuten, die das Chipkartensystem aufrecht halten und verteidigen, überhaupt ein Podium bieten wollen, im Nachhinein waren es aber genau ihre Bemerkungen, die das Menschenverachtende dieses Systems für alle deutlich machten. Den Auftakt machte ein Referat der INI, dessen Formulierung, so genannte „Schlepperbanden“ als „mittelständische Unternehmen“ zu bezeichnen, die eben so lange nötig sind, wie Menschen daran gehindert werden, ihren Aufenthaltsort selbst wählen zu können, dem CDU-Typen den Rest der Veranstaltung keine Ruhe mehr ließen. Völlig empört war der gute Mann, dass eine Überwindung der Grenzen der Festung Europa mit gutbürgerlicher, kapitalistischer Wortwahl belegt wurde und das er äußerte er vehement mehrmals.
Anschließend erzählte die (ehemalige) Betroffene des Chipkartensystems von dem mühsamen Prozedere des Einkaufens, von defekten Lesegeräten, von rassistischen Pöbeleien an den Supermarktkassen und wie es ist, in der BRD quasi ohne Bargeld zurechtkommen zu müssen. Dem FDP-Mann Kai Gersch fiel dazu nichts Besseres ein als einzuwerfen, auch „Deutsche könnten nicht jederzeit überall einkaufen“ und bewies damit, wie wenig er sich mit der Thematik und der Bedeutung für die Betroffenen auseinandergesetzt hatte. Es bleibt zu spekulieren, welches traumatische Ereignis ihm widerfahren sein mag (Sonntagabend um 23 Uhr am Ostbahnhof keinen Kaviar mehr gekriegt?) – das es niemals zu vergleichen sein kann mit 141,00 Euro auf Chipkarte im Monat nur in bestimmten Läden einkaufen gehen zu können, oft nur an einer extra ausgeschilderten Kasse, in Berlin zeitweise in einem Laden mit extra „Einkaufsbeschränkungszeiten für KartenbesitzerInnen“ und der Kontrolle der Waren durch die VerkäuferInnen und das Gemecker durch die anderen KundInnen durch die Verzögerung an der Kasse, das bleibt Fakt.
Die anderen drei ParteienvertreterInnen waren sich in ihrer Ablehnung des Chipkartensystems einig, wenn auch die Kritik von den GRÜNEN und der PDS wesentlich weitreichender war als die der SPD. Die GRÜNENfrau berichtete von ihren eigenen Erfahrungen, da sie schon länger mit Betroffenen einkaufen geht (wie auch die Abgeordnete der Linkspartei) und lud gleich die beiden CDU/FDP- Delegierten ein, doch gerne mal mitzukommen. Das freundliche Angebot wurde aber abgelehnt.
Im Verlauf der Veranstaltung heizte sich die Stimmung immer mehr auf, was vor allem daran lag, dass weder der CDU- noch der FDP-Typ ein Blatt vor den Mund nahmen und ihre Hauptargumente für die Chipkarten bei allen anderen als extrem beleidigend wahrgenommen wurden. Ihre Punkte waren, dass man mit diesen Karten Flüchtlinge vor Erpressungen durch Schlepper schützen würde, die Familien davor bewahre, dass `der Familienvater das ganze Geld versaufe` und den Aufenthalt in der BRD so unattraktiv wie möglich mache, was andere davon abhalten würde hierher zu kommen. Und überhaupt: wer wirklich vor Hunger und Tod geflohen sei, der/die habe gefälligst alles zu akzeptieren und dankbar zu sein, so die Grundhaltung. Applaus gab es dafür nur von der Fraktion der Jungen Union.
Bei soviel Pseudopaternalismus und Unterstellung in Einem waren viele der TeilnehmerInnen fast sprachlos vor Wut und die Moderatorin war um ihre Aufgabe wirklich nicht zu beneiden. Als der CDU-Typ auch noch bejahte, dass, abgesehen vom „Schlepperargument“ diese Argumentation natürlich auch für ALG II EmpfängerInnen gelten würde, und er auch ihnen gerne Chipkarten statt Bargeld auszahlen würde, wurde zumindest öffentlich unsere Analyse bestätigt, dass derartige Mechanismen der soziale n Ausgrenzung und Diskriminierung erst immer an den Schwächsten bzw. denen ohne Lobby getestet werden, um sie dann im „Erfolgsfall“ nach der Erprobung auf alle anzuwenden, die nicht „nützlich“ genug sind, nach der kapitalistischen Verwertungslogik.

Auf der anderen Seite wurde neben der Darstellung der Bedeutung der Karten im Alltag auch darauf verwiesen, dass gerade die Verweigerung der Bargeldausgabe es für Flüchtlinge und MigrantInnen sehr schwer macht, eine Anerkennung anwaltlich durchzusetzen und sie zudem kriminalisiert, in dem es ihnen geradezu aufgedrängt wird, gegen das faktische Arbeitsverbot zu verstoßen und illegal doch einer Beschäftigung nachzugehen oder ohne Fahrschein zu fahren, da die BVG-Preise nicht kompatibel sind mit der „Taschengeld“-Höhe. An dieser Stelle kam es zu dem einzigen politischen Zugeständnis des FDP-Delegierten, als erklärt wurde, dass auch diese 41,00 Euro „Taschengeld“ gekürzt oder gar nicht ausgezahlt werden können, wenn der/dem Betroffenen unterstellt wird, sie/er sei nur wegen der Sozialleistungen hier, und so viele Betroffene in Spandau nur 10 Euro im Monat erhalten würden. Auf die Nachfrage von Georg Claasen vom Flüchtlingsrat an den FDP-Typ, was er denn glaube wie oft mensch mit 10,00 Euro im Monat die BVG nutzen könne, errechnete dieser 4 Fahrten im Monat (Ein Ticket, 2 Stunden gültig aber nur in eine Richtung kostet 2,10 Euro). Das bedeutet, dass Betroffene mit gekürztem Taschengeld genau 2x (Hin- und Rückweg) im Monat legal die BVG nutzen können, wobei eine dieser Fahrten schon zum Sozialamt gemacht werden muss um die Karte aufladen zu lassen. Der CDU-Delegierte konnte hier kein Problem erkennen, der FDP-Mensch räumte immerhin ein, es solle sich vielleicht doch dafür eingesetzt werden, dass die Betroffenen auch das Sozialticket des Senats bekommen. Ein kleiner Erfolg!?
Gegen 21 Uhr war klar, dass die verschiedenen Positionen (wie eigentlich auch erwartet) nicht kompatibel sind und da gerade für die Betroffenen die Arroganz und Ignoranz der politisch Verantwortlichen schwer zu ertragen war, brachen wir die Diskussion dann auch ab.
Insgesamt erfreulich, dass es (für Spandau) so viele Leute dorthin geschafft haben und das nächste Ziel wird es sein, für alle Betroffenen UmtauschpatInnen zu organisieren, um das System ad absurdum zu führen.

Auf jeden Fall kommen wir wieder und keine Ruhe für die Mitte gilt auch in Spandau – die nächste Aktion wird der traditionelle Scheiß-auf-Weihnachtnachten-Einkauf der Ini sein, dieses Jahr am 14.12. um 13:00 Uhr und natürlich in Spandau (Goltzstraße 15).

Wer schon vorher mehr Informationen zu Chipkarten haben möchte, kann sich gerne an uns direkt wenden (persönlich donnerstags zwischen 19 und 20 Uhr im Haus der Demokratie, VH, 1. Stock, in der Greifswalder Straße 4 – Tramstation „Am Friedrichshain“/ via Mail an:  konsumfuerfreiesfluten@yahoo.de / oder über die homepage:  http://www.chipkartenini.squat.net/).

Pressestimmen zur Aktion:
 http://www.neues-deutschland.de/artikel.asp?AID=79823&IDC=41
 http://www.taz.de/pt/2005/10/28/a0234.nf/text
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Ergänzungen

geschäfte

egal 02.11.2005 - 00:14
wo bitte gibt es die entsprechenden geschäfte in spandau?
kenne mich da ganz gut aus, wenn jemand in der nähe des rathauses wohnt, ist jemanden sicherlich auch ein fußweg zum einkaufen zuzumuten (wie jedem anderen auch ;-)).

Läden in Spandau

Freya Fluten 02.11.2005 - 08:05
Der einzige Laden in Spandau ist am Rande des Bezirks und zwar der Minimal in der Goltzstraße 15. Eine Ladenliste gibt es unter  http://www.chipkartenini.squat.net/Ladenliste.htm

Geschäfte in Spandau...

freyafluten 02.11.2005 - 08:30
Es gibt in Spandau nur einen Laden der die Karten annimmt und das ist der Minimal in der Goltzstraße 15. Keine Ahnung, ob mensch da vom Rathaus gut hinlaufen kann, kam mir eher verlassen vor, die Ecke! Ansonsten wohnen die Leute, die die Karten bekommen ja auch nicht unbedingt in Spandau, sondern in ganz Berlin, weil sie via Geburtsdatumsschlüssel den Bezirken zugeordnet werden. So kann es also sein, dass Menschen in nem Bezirk wohnen, wo es gar keine Läden gibt, die die Karte akzeptieren.
Davon ab ist das Problem mit den Chipkarten, wie Du dem Artikel entnehmen kannst, ja auch nicht nur die Frage der BVG, das ist nur das Einzige, dass sogar der FDP-Typ verstanden hat?!

Ansonsten bei der Gelegenheit noch ne Korrektur: der Antirassistische Einkauf findet am Sa., den 10.12.2005, 13 Uhr bei MiniMal in Berlin Spandau
und nicht am 14.12. statt!