Gießen: Demo-Verfahren mit Gewinn eingestellt

Elfriede Denhütten 17.02.2005 15:40 Themen: Freiräume
Am 16.2.2005 saß eine Gießener Aktivistin, die von der Obrigkeit gerne dem „Umfeld der Projektwerkstatt Saasen“ zugeordnet wird, wegen zweimaligen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz (Nichteinhaltung von Auflagen) vor dem Gießener Amtsgericht.
Im ersten Fall war sie Anmelderin einer Demo gegen die Licher Bereitschaftspolizei, die im August 2003 mit geholfen hat, das Kölner Grenzcamp rabiat zu räumen. Der zweite Anzeigengrund hatte sich kurz darauf in Gießen abgespielt, wo Ende August 2003 das Utopie-Camp auf dem zentralen Kirchenplatz stattfand ( http://www.projektwerkstatt.de/gav/texte/uto_zelt01.html), und auch hier wurde ihr vorgeworfen, nicht für „Ordnung“ gesorgt zu haben.

Nun muss mensch wissen, dass das Jahr 2003 ein sehr widerständiges in Gießen war. Die städtische Gefahrenabwehrverordnung sollte verabschiedet werden, und es gelang linken Kreisen, die sozialrassistische Tendenz dieser Gesetze zum allgemeinen Thema zu machen. Eine Serie von Aktionen zu diesem Thema und Herrschaftsfreiheit allgemein begleitete die Proteste in der Innenstadt. www.abwehr-der-ordnung.de.vu

Diese ständige Provokation und Masse an mobilisierten Menschen und Aktionen konnten die Stadtväter (wie in den meisten Fällen ist auch Gießen fest in patriarchaler Hand) natürlich nicht auf sich sitzen lassen, und es hagelte Anzeigen und Verfahren gegen AktivistInnen ( http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/ausgedacht.html). Vor allem Jörg B. und sein „Adlatus“ Patrick N. wurden einem absurden Marathonverfahren unterzogen ( http://de.indymedia.org/2003/12/70405.shtml), dass dieser Tage in Berufung geht:  http://www.projektwerkstatt.de/prozess (+ ausführliches Begleit-Veranstaltungsprogramm).

Auch die Demo in Lich war so ein Fall: Sie bestand (leider) nur aus 15 Personen, die der Kaserne der BePos einen Besuch abstatten wollte. Eine der Demoauflagen schrieb vor, dass sie erst ab einer TeilnehmerInnenzahl von 50 Menschen stadtauswärts die Landstraße benutzen dürften und ansonsten den Geh- und Radweg zu benutzen hätten. Die Anmelderin hatte trotz der Widersinnigkeit, die Demo auf einem Radweg abzuhalten, wo sie wie ein „Spaziergang“ gewirkt hätte (Zeugenaussage), damals auch die TeilnehmerInnen mehrmals aufgefordert, die Straße freizumachen, aber die widersinnigen Demonstrantis taten einfach nicht das, was sie sagte. Der Einsatzleiter POK Koch aus Grünberg (übrigens auch „beleidigte“ Leberwurst bei der gleichen Demo, weil eine andere Aktivistin „Fuck the Police“ vor die BePo-Kaserne schrieb ( http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/ausgedacht.html,  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/haupt.html) hatte nichts Besseres zu tun, als die Lappalie einer für ein paar hundert Meter nicht einwandfrei befahrbaren Straße (Verkehr gab es so gut wie keinen zu der Zeit) anzuzeigen. Und Rechtsverdreher Vaupel, der sonst schnell dabei ist, Anzeigen gegen die „Elite“ der Gesellschaft einzustellen, tat sein Schärflein, um die „Tat“ zu ahnden.

Im Falle des Utopiecamps waren die Anzeigengründe noch hanebüchener: Nachdem die Stadt Gießen unter fadenscheinigen Ausreden, unglaublichen Sicherheitsvorkehrungen und fortwährenden Kontrollmaßnahmen versucht hatte, das Camp zu verhindern, war es vom Verwaltungsgericht doch genehmigt worden ( http://www.de.indymedia.org/2003/08/60509.shtml). In einem weiteren Anlauf hatte das Ordnungsamt daraufhin alles räumen lassen, was in ihren Augen nicht zu einem „Infostand“ gehörte, und musste sich wiederum vor dem Verwaltungsgericht belehren lassen, dass nicht nur Theorie zu einer Demonstration gehört, sondern auch die Praxis, wie Umsonstladen, Gratisessen etc. ( http://www.de.indymedia.org/2003/09/60895.shtml).

Wahrscheinlich aus persönlicher Eingeschnapptheit beanstandete das Ordnungsamt dann angebliche Verstöße gegen den Vergleich, der vor dem Verwaltungsgericht geschlossen worden war: Eine mittags auf dem Rasen liegende Matratze wurde als nächtliche Schlafgelegenheit ausgegeben; auf einer Bank deponiertes Geschirr und auf dem Platz aufgestellte Stühle erregten die Gemüter der Ordnungsfanatiker. Dass solche banalen Beweggründe überhaupt zur Anklage bei den ach so überlasteten Gerichten zugelassen werden, dürfte deutlich machen, dass es sich hier wieder einmal um Schikane der Obrigkeit gegen politisch unbequeme Zeitgenossen handelt.

Selbst die Abläufe im Vorfeld des Prozesses waren reichlich lächerlich. Der Gießener Oberstaatsverteidiger Vaupel ( http://www.projektwerkstatt.de/polizeidoku/anzeigen.html,  http://www.niehenke.de/beschwerdezentrum/justizirrtum/forum/posts/2897.html), bot der Aktivistin an, die Sache wegen Geringfügigkeit gegen die Zahlung von 200 € an eine gemeinnützige Einrichtung „aus der Welt zu schaffen“. Als sie anfragte, aus welchem Grund sie überhaupt angezeigt worden war, erhielt sie die Antwort von Punkt 1 s.o. und eine Anzeige wegen Nicht-Abmeldung einer nicht-stattgefundenen Demo! Wegen der Vielzahl der stattgefundenen Demos in diesem Zeitraum, konnte die Beschuldigte mit dieser vagen Antwort nicht viel anfangen und hakte weiter nach. Dann stellte sich heraus, dass sogar der Meisterkriminalisierer Vaupel es rechtlich nicht für möglich hielt, jemanden wegen einer nicht-stattgefundenen und nicht-abgemeldeten Demo anzuzeigen ( http://www.projektwerkstatt.de/prozess/demo). Dafür hatte sich das Ordnungsamt Gießen in der Zwischenzeit den oben schon genannten zweiten Anzeigengrund ausgedacht.

Inzwischen hätte eine Einstellung der beiden Fälle schon 300 € gekostet, aber die Angeschuldigte bestand auf einem Verfahren. Ein Termin wurde angesetzt, der die Angeklagte, allerdings zu spät erreichte, weil das Gericht eine veraltete Adresse benutzt hatte. In einem persönlichen Gespräch mit der Richterin am Gießener Amtsgericht Kaufmann, sollte das Verfahren nun gegen nur noch 100 € eingestellt werden. Es war offensichtlich, dass die Richterin selbst keine Lust auf solche „Pillepalle“ (wörtlich nach dem Verfahren) hatte und nur auf Wunsch von Vaupel nicht sofort einstellte.

Als es dann endlich zur Verhandlung kam, wurde klar, dass sich die Angeklagte, nicht so schnell würde abspeisen lassen. Sämtliche andere Verhandlungen, die an diesem Tag hätten stattfinden sollen, wurden in einen anderen Saal verlegt. Es waren 8 ZeugInnen für die Angeklagte gekommen, die den Prozessablauf ziemlich in die Länge zogen, weil sie sich erst alle einzeln der nur bei angeklagten „Projektwerkstättlern“ üblichen doppelten Leibesvisitationen unterziehen mussten... Ansonsten war nicht ganz so viel Polizei vor Ort, wie sonst bei solchen Anlässen, aber die ärgerte sich wohl schon über die Länge, in die sich das Verfahren zog.

Das Publikum setzte sich aus ca. 20-30 jungen, aufstrebenden Auszubildenden in irgendeiner Rechtsdisziplin und ca. 15 SympathisantiInnen der Angeklagten zusammen; es mussten zusätzliche Stühle in den Saal getragen werden. Vor dem Gerichtsgebäude hatten sich zwei Sympathisanten mit Plakaten postiert, auf denen etwa zu lesen war: „Wenn Demos auf der Straße gehen, der Staatsanwalt will Strafe sehen.“ Die Angeklagte hatte sich extra für diesen Tag ein Album „Mein erstes Verfahren“ angelegt, in das sich Zuschauer und andere Gerichtsbeteiligte eintragen konnten. Die Zuschauer kommentierten mitunter lautstark die unsauberen Abläufe des Verfahrens, und Frau Kaufmann ließ es sich natürlich nicht nehmen, den immer im Mittelpunkt des Obrigkeitszorns stehenden Jörg B. aus dem Saal tragen zu lassen. Der lieferte sich draußen noch ein Paragraphengeplänkel mit der Operativen Einheit (OPE), die sich aufgrund dessen nicht so viel herausnehmen konnte, wie sie gerne gewollt hätte.

Die Angeklagte agierte ohne VerteidigerIn, was den Oberstaatsanwalt (der Vaupel aus unbekannten Gründen vertrat; vielleicht wollten sie seinen Blutdruck schonen) immer wieder veranlasste, den gutmütigen Onkel zu mimen und wohlmeinende Verteidigungsratschläge zu geben. Gleichzeitig fiel er den Ausführungen der Angeklagten aber immer wieder ins Wort und versuchte, sie durch seine „Rechtskenntnis“ zu verunsichern.

Die freiwillige Eingangseinlassung der Aktivistin enthielt eine genaue Darstellung der den jeweiligen Vorwürfen vorangegangenen Ereignisse (Querelen mit Stadt und Polizei), die diese Behörden in keinem guten Licht zeigten. Trotzdem beharrten Richterin und Staatsanwalt auf einer (wenn auch minimalen) Schuld im Falle der Lichdemo, selbst wenn die Leiterin alles versucht hätte. Der Polizeizeuge konnte sich nicht mehr an viel außer seinen Vorwürfen erinnern, und die Entlastungszeugen taten dann ihr Übriges.

Im zweiten Fall wurde noch schneller deutlich, dass die vom Gericht geladenen Zeugen nicht viel sagen könnten: der Chef des Ordnungsamtes war nie beim Utopiecamp gewesen und stützte sich nur auf seine Akte, und der Staatsschutzmensch war völlig umsonst geladen worden, weil die Richterin ihn fälschlicherweise für den Fotografen der Beweisbilder hielt, er aber lediglich eine der Anzeigen aufgenommen hatte. Ja, so werden die vielbeschworenen Steuergelder verschwendet, und die Obrigkeitshörigkeit zahlt sich nicht aus!

Als nach der Aussage des Ordnungsamtes klar wurde, dass mindestens ein Punkt von vornherein fallen gelassen werden müsste, weil er nicht gegen den Vergleich verstieß und das Gericht zur eventuellen Belastung der Angeklagten neue Zeugen und somit einen neuen Termin einberaumen müsste, war es mit der Geduld vorbei. Die Richterin schlug die Einstellung des Verfahrens ohne Auflagen mit Übernahme der Kosten durch die Staatskasse vor, und der Staatsanwalt widersprach ihr nun nicht mehr. Nach langem Hin- und Herüberlegen, ob sie den schnellen Sieg genießen oder die Hilflosigkeit des Gerichts noch etwas in die Länge ziehen sollte, entschied sich die Angeklagte doch für eine Einstellung.
„Gelohnt“ hatte sich das Verfahren allemal: ein Zeuge, der aus Berlin angereist war, spendete seine Aufwandsentschädigung von 260 € (cash auf die Hand, ohne ausgesagt zu haben!) der Solikasse für die Prozessserie gegen weitere Projektwerkstättler, die im März ansteht ( http://www.projektwerkstatt.de/prozess/).

Weitere Infos über Filz von Presse, Politik, Justiz und Polizei in Gießen:
 http://www.projektwerkstatt.de/polizeidoku/haupt.html
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Ergänzungen

Bericht in Gießener Anzeiger

völliger Beobachter 20.02.2005 - 13:30

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mensch meier — wer wohl?

mensch ... — mensch ...

mensch oder man? — Linguist