Deutsche Erinnerungspolitik angegriffen!

peter 21.07.2004 20:46
Über 50 Personen folgten dem Aufruf der Antifa I Aktion und KritiK und demonstrierten in Göttingen mit einer Fahrraddemo unter dem Motto "Geschichte wird gemacht! Deutsche Erinnerungspolitik angreifen!" In mehreren Redebeiträgen wurde die weitgehende Übereinstimmung der VerschwörerInnen mit den Positionen der Nationalsozialisten hervorgehoben. Nach der Zwischenkundgebung wurde der Stauffenbergring in "Deserteurstr." und die Ludwig-Beck-Str. nach einer jüdischen Widerstandskämpferin in "Marianne Cohn-Str." umbenannt. In der Nacht zuvor brachten unbekannte die Schriftzüge "Deutsche Täter sind keine Opfer" und "KDV+Desertation" am Denkmal für “Die Männer des 20.Juli” an.
Aufruf der Antifa I Aktion & Kritik:

Geschichte wird gemacht!
Deutsche Erinnerungspolitik angreifen!

Sie sind in den letzten Wochen die Stars der deutschen Medienlandschaft: “Die Männer des 20.Juli”. Ob für das öffentlich-rechtliche Fernsehen aufbereitet (Sie wollten Hitler töten auf ZDF und Stauffenberg auf ARD), in Buchform als Familiengeschichte (Meines Vaters Land. Geschichte einer deutschen Familie von W. Bruhns), als Theaterstück (Stauffenberg .Die Tragödie des 20.Juli 1944), oder gleich als Inszenierung eines Staatsaktes beim öffentlichen Bundeswehrgelöbnis am20. Juli 2004 in Berlin, die “Männer des 20. Juli” sind allgegenwärtig. Die Bundeswehr nimmt selbstzufrieden das Ergebnis des ganzen Rummels vorweg: “Der 20. Juli 1944 ist zum Inbegriff und Symbol des deutschen Widerstandes gegen die Diktatur des Nationalsozialismus und die Schreckensherrschaft Adolf Hitlersgeworden.”1

In Bestform: Geschichte auf deutsch
“ Die Männer des 20 Juli” um General von Stauffenberg, von Stülpnagel und Beck waren nicht schon immer “Inbegriff und Symbol des deutschen Widerstandes”, lange galten sie weiten Teilen der deutschen Bevölkerung als Vaterlandsverräter und Kameradenschweine. Wesentlich für diese Sichtweise war, dass die Tat selbst, unabhängig vom dahinterstehenden Motiv, auf die Möglichkeit verwies, dass Widerstand möglich war. Jeder Akt des Widerstandes legte nur offen, in welchem Maße die deutsche Bevölkerung nicht nur “Hitlers willige Vollstrecker”, sondern vor allem Vollstrecker ihres eigenen Willens waren. Die Schuld aller Deutschen, die den Nationalsozialismus gestützt hatten, wurde durch die vereinzelten Akte des Widerstands nur noch offensichtlicher. Eine Änderung des Bildes des 20. Juli setzte sich zuerst in der offiziellen Geschichtsbetrachtung durch. Maßgeblich waren da für die Ereignisse um den 17. Juni 1953 in der DDR. Exemplarisch für diesen Wandel steht der damalige Berliner Bürgermeister Ernst Reuter, der den 17. Juni 1953 als “Tag des zweiten Fanals” einerdeutschen patriotischen Freiheitsbewegung in eine Kontinuität mit dem 20. Juli 1944 stellte. Auf der politischen Bühne wurde also die Potenz entdeckt, diesen Tag als Aushängeschild für eine bisher scheinbar unbekannte Traditionslinie in Deutschland zu nutzen: aufopferungsvoll für ein freiheitliches antitotalitäres Deutschland zu kämpfen. Ein positiver Bezug auf die deutsche Nation wurde durch diese Rezeption des 20. Juli 1944 vor allem außenpolitisch wieder möglich, ohne in den Verdacht eines neuen Nationalismus zu geraten. Die Attraktivität des Datums lag nicht nur in dem direktenöffentlichen Bezug auf ein anderes Deutschland, sondern auch darin, das Attentat als antitotalitären Akt zu begreifen. Eine Rezeption der Totalitarismustheorie, die zur Relativierung von NS-Verbrechen genutzt werden konnte, kam der jungen Bundesrepublik hier gerade recht. Die Verdrängung anderer Widerstandsgruppen und -formen findet ihren deutlichsten Ausdruck im Bundesentschädigungsgesetz von 1953, das nur denen eine Entschädigung zugesteht, die weder der “nationalsozialistischen noch einer anderen Gewaltherrschaft Vorschub geleistet” haben. Ausgeschlossen waren damit alle kommunistischen oder sozialistischen Widerstandsgruppen. In der bewussten Verkennung oder Idealisierung von Motiven und Zielen der Attentäter vom 20. Juli und der Ausblendung der von ihnen begangenen und/oder verantworteten Verbrechen wurden sie zum Bezugspunkt für eine sichtstetig fortsetzende Erfolgsgeschichte eines antitotalitären freiheitlichen Deutschlands. In der deutschen Bevölkerung setzte sich eine solche Betrachtung erst in den sechziger Jahren durch. Und erst in der Folge der 68erBewegung, die eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus anstieß, begann langsam die Erwähnung und Würdigung des linken Widerstandes. Der Glorifizierung des konservativen Widerstands tat dies jedoch lange Zeit kaum einen Abbruch.

„ 60 Jahre Nazi-Aufstand gegen Hitler“ (konkret Juli 2004)
Die Attentäter des 20. Juli waren alles Mögliche, nur keine demokratischgesonnenen Freiheitskämpfer. So ordnete General von Stülpnagel am 30. Juli 1941 nach dem Einmarsch ins ostpolnische Galizien “kollektive Gewaltmaßnahmen” bei sich abzeichnenden “passiven Widerständen” an, wenn die Verantwortlichen nicht sofort feststellbar waren. Zur Erschießung waren dabei “in erster Linie jüdische und kommunistische Einwohner zu nennen”. Ziel des Generals war der “vermehrte Kampf gegen den Bolschewismus und das vor allem in seinem Sinne wirkende internationale Judentum”, und mit diesem ideologischen Rüstzeug stand er im Kreis der späteren Verschwörer nicht allein. So äußerte sich z.B. Berthold Graf von Stauffenberg, der Bruder des Attentäters: “Auf innenpolitischem Gebiet hatten wir die Grundideen des Nationalsozialismus zum größten Teil durchaus bejaht: Der Gedanke des Führertums , ... verbunden mit dem einer gesunden Rangordnung und dem der Volksgemeinschaft, ... der Rassegedanke und der Wille zu einer neuen, deutsch bestimmten Rechtsordnung erschien uns gesund und zukunftsträchtig...”. Vielen Verschwörern war gemein, dass sie die nationalsozialistische Politik guthießen und somit als Offiziere und Generäle der Wehrmacht ihren ganz praktischen Beitrag zum deutschen Vernichtungskrieg und zur Ermordung der europäischen Juden und Jüdinnen leisteten. Es war also gerade nicht die grundsätzliche Feindschaft zum Nationalsozialismus, die zum sogenannten “Aufstand des Gewissens” führte. Vielmehr war es die sich abzeichnende Niederlage Deutschlands, die Teile der Wehrmachtsgeneralität motivierte, Hitler ins Jenseits zu schicken, um dadurch in eine bessere Verhandlungsposition für ein Nachkriegsdeutschland zu kommen. Gerhard Schröder lag bei seiner Rede am6. Juni 2004 ( 60. Jahrestag der Invasion der Normandie, D-Day )also gar nicht so falsch, als er ausführte: “Unter dem Eindruck des alliierten Vormarsches holten deutsche Widerstandskämpfer am20. Juli 1944 zum vergeblichen Schlag gegen die Diktatur aus. Sie starben für ein besseres Deutschland” .

Deutsche Verbrechen: europäische Gemeinsamkeit
Um die Tatsache, dass die „Männer des 20. Juli“ mehrheitlich an Führerprinzip, Nationalismus oder Monarchie festhielten, kommt inzwischen auch die offizielle Geschichtsschreibung nicht mehr herum. Noch 1998 wurde der bürgerliche Historiker Hans Mommsen als Eröffnungsredner der Ausstellung „Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime1933 – 1945“ wegen seines Anspruchs einer legendenfreien Sich auf die Verschwörung wieder ausgeladen. Heute kann die Mystifizierung um den 20. Juli neben der Kritik an ihrem reaktionären, rückwärtsgewandten Gehalt problemlos nebeneinander existieren. Das muss kein Widerspruch sein, denn im Rahmen einer „Europäisierung“ der Geschichte des Nationalsozialismus, die sich auch in der Debatte um ein „Zentrum gegen Vertreibung“ widerspiegelt2, kann Schröder in seiner D-Day-Rede ohne Weiteres darauf verweisen, dass „Europa seine Lektion gelernt hat, und gerade wir Deutschen sie nicht verdrängen werden.“ Kein Staat Europas, weder Frankreich, England noch Tschechien wird also in Zukunft Vernichtungslagerbauen und Juden vergasen. Deutschland hat seine Lektion gelernt, indem es, wie im Jugoslawien-Krieg, nicht trotz, sondern „wegen Auschwitz“ Krieg führt. So wird die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus für deutsche Politik benutzt. Durch die gegenwärtige Thematisierung von Bombenkrieg und deutschen Flüchtlingsschicksalen werden die Täter/Opfer-Grenzen endgültig verwischt, was die aktuelle deutsche Außenpolitik zusätzlich moralisch legitimieren soll.

„ German Gedächtnis“
Mit Hilfe eben jener Geschichts- und Erinnerungspolitik schaffte Deutschland in nicht einmal sechzig Jahren den großen Sprung. Vom Verlierer, der sich trotzig in die Niederlage fügte und aus dem Zwang zur Selbstbeschränkung das Recht auf Beschweigen und Erinnerungsabwehr ableitete, hin zur auferstandenen Großmacht, die aus der auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Geschichtsbetrachtung die höheren moralischen Werte für sich in Anspruch nimmt. German Gedächtnis, das heißt die Wandlung von der Verleugnungs-zur Erinnerungsgemeinschaft. Statt traditioneller Erinnerungsabwehr, wie sie in den Schlussstrichdebatten bis heute sichtbar wird, entwickelte sich ein „modernisiertes“ Modell deutscher Geschichtspolitik. Durch pluralistisches Gedenken werden die Opfer des Holocaust mit den deutschen Toten des Zweiten Weltkrieges in eine Reihe gestellt. Indem man die Verbrechen des NS nicht beschweigt, sondern sie den Folgen für die TäterInnen strukturell gleichmacht, wird der deutsche Opfermythos zu einem akzeptablen Muster nationaler Identifikation.

Wer macht hier Geschichte?
Der offiziellen und staatstragenden Geschichtsschreibung so wie den geschichtsrevisionistischen Interventionsversuchen von rechts wurde von linker Seite mit einem eigenen Diskurs begegnet. In unterschiedlichoffensiver Form sagten linke Gruppen der etablierten Geschichtsschreibung den Kampf an und traten mit Aufklärungs- und Bildungsarbeit an die Öffentlichkeit. Mit Aktionen gegen das revanchistische Gedenken an die Gefallenen der faschistischen Wehrmacht im Göttinger Rosengarten gelang es einigen Gruppen, die Landsmannschaft Ostpreußen dazu zu bringen, ihre Gedenkveranstaltungen einzustellen. Das Mahnmal wurde mehrmals angegriffen, unter anderem wurde Ende der 80er Jahre das Denkmal vom Sockel gestürzt, wobei der Kopf der Figur verschwand. Ein unterschiedlich aufgegriffenes Datum war Anfang der neunziger Jahre der 9. November, an dem revolutionärer Kampf anhand der gescheiterten deutschen Revolution von 1918 in den Mittelpunkt gestellt oder die Erinnerung an Nationalsozialismus und die Reichspogromnacht mit verschiedenen aktuellen Themenverknüpft wurde. Für ersteres stand die Autonome Antifa (M) und ihr nahestehende Gruppen, die das Thema mit einer Demonstration und Begleitprogramm in die Öffentlichkeit trugen. Letzteres wurde von einem breiten Spektrum linker Gruppen getragen, die sich mehrere Jahre lang im Forum 9.November/30.Januar zusammen fanden und in diesem Zeitraum Aktionstage, Veranstaltungen und Ausstellungen durchführten. Zuletzt wurde das Thema Geschichtsrevisionismus unter anderem 2003 durch die Demonstration„Links ist da wo keine Heimat ist“ oder durch Proteste gegen das Gebirgsjägertreffen in Mittenwald aufgegriffen. Am 20. Juli 2004 jährt sich nun zum sechzigsten Mal der „Nazi-Aufstand“ gegen Hitler. Auch angesichts dessen, dass die Stadt Göttingen jüngst eine Gedenktafel ausgerechnet zu Ehren Graf von Schulenburgs als verdienten Kämpfer gegen den Nationalsozialismus(er trat 1932 in die NSDAP ein, war zwischen 1937und 1940 stellvertretender Polizeipräsident in Berlin und wurde als Verschwörer hingerichtet) am Theaterplatz installiert hat, möchten wir die Gelegenheit nutzen, uns gegen diese Form der deutschen Vergangenheitsbewältigung zu stellen.

Antifa | Aktion & Kritik im Juli 2004
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Göttingen — Antifa