Freispruch und Aktionen in Gießen

AbwehrspielerIn der Ordnung 12.02.2004 17:52 Themen: Freiräume Repression
Am Donnerstag, 12.2.2004, fand in Gießen erneut ein Prozeß gegen eine Person aus dem sog. Umfeld der Projektwerkstatt statt. Angeklagt war der 48jährige E. wegen Sachbeschädigung an Wahlplakaten (Bericht der damaligen Ereignisse siehe  http://www.de.indymedia.org/2003/08/60509.shtml). Das ganze fand während der Giessener UtopieTage statt, die ohnehin zu massiven Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht führten – über eine Woche lang war Gießen von Polizeieinheiten belagert, innerstädtische Plätze waren nächtelang grün besetzt. Nach den Festnahmen vermeldeten Polizei und Zeitungen, endlich die Plakatefälscher gefasst zu haben (das Verfälschen von Wahlplakaten ist in Gießen ein auffälliger Vorgang bei jeder der letzten Wahlen). Doch das Amtsgericht folgte diesmal nicht der Traditionslinie. Die Widersprüche der beiden Polizeizeugen führten zum Freispruch. Da half auch der Aufruf der Jungen Union nichts, im Gericht Stimmung für eine Verurteilung zu machen ... oder war das ein Fake?
Vorspiel 1: Die „juristische Aufarbeitung“ ist in vollem Gange. Die Kriminalitätsstatistik von Roland Koch ist angesichts von um die Hundert festgestellten Straftaten in 2 Jahren sowie vielen weiteren gar nicht verfolgten in Gefahr. Im Verfassungsschutzbericht hat Hessen die größten Zuwächse. Die Law-and-Order-Vorzeigestadt Gisseen ist phasenweise eher zur Lachnummer verkommen, wenn Bullen- und Verwaltungsmacht auf kreatives Theater und Subversion stießen. Innenminister Volker Bouffier machte Druck, dass endlich Konsequenzen folgen sollten. Polizeiführer wie Staatsschutzchef Puff oder Polizeiführer Wiese waren schwer genervt und wollten was erreichen. So gab es immer mehr Druck – und seit Ende 2002 immer mehr Erfindungen seitens der Polizei. Wenn mensch schon niemanden für die tatsächlichen Aktionen findet, müssen halt Taten erfunden werden plus den Polizisten, die jeweils als Zeuge herhalten. So geschah es auch mit dem Vorfall, der am 12.2.2004 in Gießen zu Gericht stand.

Vorspiel 2: Einige Tage vor dem Prozeß wurden in Gießen Briefe der Jungen Union verteilt. Leider liegen gar keine Erkenntnisse vor, wie viele verteilt wurden. Die wenigen Exemplare, die vorliegen, stammen von Personen, die sie an verschiedenen Stellen in der Stadt im Briefkasten fanden. Polizei, Presse und Junge Union veröffentlichten dazu auch nichts. Der Text (siehe Abbildungen) ist ein Aufruf zur aktiven Teilnahme am Prozeß.

Vorspiel 3: Im Amtsgericht war wieder Angst angesagt. So wurde das Gelände in der Nacht zuvor bewacht, Personen wurden kontrolliert. Beim Prozeß sicherten wieder viele PolizistInnen das Gebäude. Ein großer Teil war zivil gekleidet. Ein Gespräch zwischen den Beamten deutete darauf hin, dass neben der Sicherung von Recht und Ordnung diesmal auch zivile Kräfte angefordert waren, um sich Gesichter von Zielpersonen einzuprägen.

Aktionen beim Prozeß: Ähnlich wie beim Prozeß am 15.12. dominierte die präzise Vernehmung der Polizeizeugen. Wo Polizisten oder andere Vertreter der Staatsmacht auf dem Zeugensessel sitzen, politisiert sich das Geschehen von selbst. Die verfolgten Interessen werden deutlich – hier ist nicht die Wahrheitsfindung, sondern die Durchsetzung von Interessen angesagt. Da der Sachverhalt einfach war, war der Prozeß auch nicht so lang. Eine Person, die ohnehin früher gehen wollte, nutzte das zu einer deutlichen Intervention und hielt auf ihrem Weg vom Sitzplatz bis zur Ausgangstür quasi eine kurze Rede.

Der Filz: Der gut bekannte „Polizeireporter“ der Giessener Allgemeinen (Herr Altmeppen) war wieder da. Er setzte sich auch gleich neben zwei Wachtmeister und plauderte auch während des Verfahrens mit ihnen. Danach war er auch in mehreren Gesprächsgruppen mit der Polizei am Reden. Er war Zielperson des deutlichsten Gespötts. Nach dem Prozeß wurde er laut und deutlich gefragt: „Na, Herr Altmeppen, was lügen Sie sich denn diesmal zusammen in Ihrer Berichterstattung? Vielleicht wieder Randale im Gerichtssaal erfinden? Das kennen wir alles doch schon“. Er schaute ziemlich hilflos drein. Draußen dann wurde er beim Gespräch mit Zivis angegangen: „Na, lassen Sie sich jetzt erzählen, was Sie schreiben sollen?“ Das war alles laut, so dass es viele mitbekamen. Der Redakteur wusste nie eine Entgegnung.

Gespräche: Nach dem Prozeß gab es noch eine Diskussion mit einer Gruppe von ZuhörerInnen, die aber dann von ihrem Leiter zur Ordnung gerufen wurden, was sehr offensiv begegnet wurde (Überidentifikation der Marke: „Ja, seid endlich diszipliniert! Zeigt mal deutsche Tugenden! Immer schon der Norm entsprechend!“ und schließlich „Das Leben soll keinen Spaß machen!“ usw.
Draußen dann konnten die Zivilbullen noch in ein intensives Gespräch verwickelt werden über den Sinn ihres Jobs. Nachdem sie behaupteten, sie würden aus eigener Überzeugung das alles machen und dass ihr Job auch ihrer Verantwortung entsprechen würde, bekamen sie den Befehl des Vorgesetzten zur Abfahrt. Allgemeines Gelächter über diese Widerlegung des Handelns aus eigener Überzeugung – dann fuhr eine fette Horde von Zivilbullen in ca. 4 Zivilautos vom dicken BMW bis zum klapprigen Opel Kadett davon.


Vorbemerkung zum Prozeß: Der Vorgang war bereits in der Giessener Tagespresse. Die Polizei hatte per Presseinformation bekannt gegeben, vier TäterInnen von Sachbeschädigungen an Wahlplakaten erwischt zu haben. Die Tagespresse hat das, wie üblich, unhinterfragt übernommen. Der Prozeß und sein Freispruch beweisen nun, dass das eine – in Gießen leider normale – Vorverurteilung war.
Die Festnahmen erfolgen in einer angespannten Situation kurz vor den Oberbürgermeisterwahlen in Gießen. Die Polizei hatte erhebliche Kräfte in der Stadt zusammengezogen, um die Wahlen zu sichern (zu den Anti-Wahl-Aktivitäten siehe  http://www.wahlquark.de.vu, speziell in Gießen auch  http://www.abwehr-der-ordnung.de.vu). So stammten auch die beiden Zeugen im Prozeß von der Bereitschaftspolizei in Mühlheim fast 100 km entfernt vom Ort des Geschehens. Sie waren mehrere Nächte in Gießen zu Sicherung der Wahlen und des Wahlkampfs eingesetzt.



Bericht vom Prozeß gegen E. wegen vermeintlicher Sachbeschädigung an Wahlplakaten

E. hatte bereits einen Strafbefehl über 150 Euro erhalten und Widerspruch eingelegt. Er war mit Anwalt erschienen. Richter war Michael Wendel – also derselbe Richter, der in einem aufsehenerregenden Prozeß wenige Wochen vorher zwei Personen u.a. auch wegen vermeintlicher Beschädigung von Wahlplakaten zu sehr hohen Strafen verurteilt hatte. Damals hatte er den Polizeizeugen kaum Fragen gestellt. Beim Prozeß gegen E. dagegen war er sehr genau.

Der Ablauf:

1. Eröffnung der Sitzung, die erneut von einem massiven Polizeiaufgebot gesichert war. Anwesend waren 10-20 PolizeibeamtInnen in Uniform, einige Justizwachtmeister sowie 10-20 PolizeibeamtInnen in Zivil. Diese waren, einem Gespräch zufolge, auch anwesend, um sich die Gesichter von Personen im Publikum einzuprägen (gemeint waren damit offenbar Personen aus dem Umfeld der Projektwerkstatt in Saasen).
Der Richter fragte die Personalien ab. Danach verlas der Staatsanwalt die Anklage. Danach soll E. 1 (in Worten: ein) Wahlplakat abgerissen haben.
E. sagte, dass er auch zur Sache sprechen werde. Danach gab er seine Version des Ablaufs bekannt. Danach hätte er die Wahlplakate nicht heruntergerissen. „Die Wahrheit solle hier herauskommen. Ich bin in der Nach raus, um meine Notdurft zu verrichten.“ Er ging von einem Zeltbereich in der Wiesenstraße Richtung Ostanlage. „Bin dahin, weil da ein Gebüsch war. Bin dann zurückgegangen, da kam das Polizeiauto plötzlich.“
Frage des Richters: „Was haben Sie in Gießen um 3 Uhr gemacht?“ E.: „Ich hab da gezeltet in der Wiesenstraße. Und dann musste ich mal und wollte nicht an den Zeltplatzrand gehen“. Richter: „Waren Sie allein?“ Enders: „Nein, da war noch eine Frau dabei. Kenne deren Namen aber nicht, weiß auch nicht, wohin die wollte“.
Staatsanwalt und Verteidiger hatten keine weiteren Fragen. Der Richter schob eine kurze Debatte über die Einkommensverhältnisse von E. ein. E. ist seit zwei Jahren arbeitslos, das Arbeitslosengeld ist gesperrt.

2. Vernehmung des Zeugen Matthias Rieken, 29 Jahre, Bereitsschaftspolizist
Sein Bericht: „Wir waren in Gießen eingesetzt wegen den Oberbürgermeisterwahlen. Da hatte es in der Vergangenheit Sachbeschädigungen und Farbschmierereien gegeben ... Um 3 Uhr ist der Herr E. mit einer Frau gekommen. Er ging zu einem CDU-Plakat und hat es abgerissen. Die Frau kam dazu und riß auch eines herunter.“ Richter: „Wie weit entfernt waren Sie da?“ Zeuge: „100 bis 150 Meter“. Darauf folgt eine Debatte über Entfernungsgefühl. Der Richter lässt den Zeugen Entfernungen beim Blick aus dem Fenster schätzen. Es zeigt sich, dass er Entfernungen nicht besonders gut schätzen kann. Anschließend ließ der Richter den Zeugen die Situation am Richtertisch auf ein Blatt aufzeichnen. Darüber wurde vorne diskutiert. Richter Wendel stellte sehr präzise Nachfragen nach der Stellung der Plakate und dem Ablauf der Handlungen. Der Angeklagte E. hätte danach das von ihm aus hintere Plakat abgerissen.
Danach folgen die Fragen des Rechtsanwaltes. Wie er rangefahren sei mit dem Auto, wollte dieser wissen. Der Polizist meinte, den Angeklagten dabei immer im Auge gehabt zu haben. „Kann es sein, dass Sie nur eine Bewegung gesehen haben, die so aussah wie Abreißen? Könnten Sie sich auch getäuscht haben?“ Antwort: „Ja, das kann sein“. Mehrere Nachfragen, Blick ins Protokoll, ob er das wirklich so geantwortet hat. Der Richter bestätigt das. Als der Polizist es trotzdem korrigiert, fragt der Angeklagte: „Sie wollen sagen, dass ich ein Plakat runtergerissen habe?“ „Ja!“ „Unverschämtheit!“.
Es wird diskutiert, ob das Plakat schon vorher kaputt gewesen sein kann. Der Zeuge behauptet, er hätte es vorher heil gesehen. Nach Diskussion gibt er zu, nicht lückenlos immer diese Stelle überprüft zu haben, er hätte ja die ganze Straße bewachen müssen.

3. Vernehmung des Zeugen W. Reinhard, 27 J., Bereitschaftspolizist
Er wäre schon zwei Tage vorher als Bewacher der Plakate in der Nacht eingesetzt gewesen. Bei einer Kontrollfahrt hätte er in der Wiesenstraße geguckt: „Dort hielt sich Klientel auf. Es kamen dann auch zwei Personen, die so aussagen wie Leute aus dem Klientel. Beide sind direkt auf Wahlplakate zugelaufen.“ Die Plakate seien vorher intakt gewesen. Sie seien dann zu den Plakaten gefahren und haben sie angeguckt. Dann seien sie zu den Personen gefahren (Hinweis für nicht Ortskundige: Das bedeutet zwei Querungen einer Kreuzung, die beide verkehrsrechtlich gar nicht zugelassen sind).
Danach folgt vorne wieder das Aufmalen und die Debatte um die Details des Ablaufs (hier deshalb auch wieder nicht wiedergebbar). Eine lange Debatte um die Abreißbewegung folgte. Deutlich wurde, dass die beiden Polizistenaussagen sich in etlichen Punkten widersprachen. Der zweite Zeuge behauptete, E. sei am vorderen Plakat gewesen. Frage: „Können Sie ausschließen, dass die Frau beide Plakate abgerissen hat?“ „Ja, aus meiner Warte kann ich das ausschließen“. Schließlich fragte der Richter nach Fotos, auch den dazu noch mal hereingerufenen ersten Zeugen. Beide Beamten erklärten, keine Fotos gemacht zu haben.

4. Plädoyer des Staatsanwaltes: Wiederholt zunächst die Anklage. Spricht dann von der Erinnerung der Zeugen, die nach 6 Monaten nachgelassen habe. Der Sachverhalt sei nicht mehr eindeutig aufklärbar. „Ich bin zwar der Meinung, dass Sie das gemacht haben. Aber es gibt keine lückenlose Überwachung“. Er beantragt Freispruch.

5. Plädoyer des Verteidiger: Benennt ähnliche und einige weitere Punkte. Beobachtung sei sehr ungenau gewesen.

6. Schlusswort des Angeklagten: Ist enttäuscht vom Staatsanwalt, dass dieser persönlich weiterhin an die Schuld des Angeklagten glaubt.

7. Richter spricht das Urteil: Freispruch. Die unklaren Beschreibungen und Widersprüche bei den Zeugen lassen ein anderes Urteil nicht zu.


Hinweis: Internetseiten zum Prozess am 15.12.2003, wo Richter Wendel bei deutlich größeren Widersprüchen der ZeugInnen dennoch hohe Strafen verhängt hat:  http://www.projektwerkstatt.de/prozess.

Nächste offiziell angekündigte Repressionsaktion: Die Vorladung zum DNA-Test gegen einen Projektwerkstatts-Aktivisten ist neu erfolgt. Termin jetzt: 26.2., 10 Uhr. Mehr unter:  http://www.de.indymedia.org/2004/02/74619.shtml

Ideen usw. zu kreativer Antirepression:  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression.

Infos zur geplanten Antirepressions-Aktionswoche in Gießen (8.-15.3.) unter  http://www.antirepression.de.vu
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Ergänzungen

JU nicht so sehr helle, gelle

Togliatti Nachfolger GmbH 12.02.2004 - 23:20
sekbst wenn einige JU-Clowns mit Konfetti und Trillerpfeifen anrückten zu politischen Prozessen - unterm Strich würden sie das Bemühen, den "würdevollen" Chrakter der Justizfarce zu demaskieren doch nur unterstützen. Geschrei nach "Recht und Ordnung" in dieser Form könnten nicht einmal ihre Parteifreunde ernst nehmen, es würde ironisch gedeutet und die Pappnasigkeit der Jungspießer zu reiner Selbstverarschung. Schön. Und Betroffene von Ordnungsgeldern könnten öffentlich den CDU-Nachwuchs beschuldigen, sie zu Verstößen gegen die StPO verleitet zu haben.

Also, liebes Nachwuchs-Spießervolk aus JU, Schülerunion, RCDS und was es da noch an Langweiler-Grüppchen geben mag: kommt zu politischen Prozessen! Wir lieben euch!!

Übrigens...

d. F. 13.02.2004 - 19:30
wurde "die Frau" (18)Ende Oktober von Seiten der Justiz offiziell ermahnt. Zu einem Prozess kam es nicht.

Giessener Anzeiger

Projektwerkstätti 14.02.2004 - 19:30
Bericht im Gießener Anzeiger:  http://www.giessener-anzeiger.de/sixcms/detail.php?template_id=2449&id=1311005&_zeitungstitel=1133842&_resort=1103635

In der Allgemeinen war auch was. Andere Medien schweigen sich aus ... auch zum DNA-Test bei einem Politaktivisten - die Gießener Medien und der eher mit elitären "linken" Gruppen verbündete FR-Redakteur (paßt also gut zu "seiner" Zeitung) schweigen ...

Ach ja ... 13.6. ist wieder Wahl. Da kann mensch ja die Notdurft mal wieder verrichten ...

imc postings zum Komplex Projektwerkstatt

ein Überblick 14.02.2004 - 19:49
Aktion gegen Gentest! DNA-Entnahme abgesagt!
 http://www.de.indymedia.org/2004/02/74619.shtml

Gentest für Aktivisten in Giessen
 http://de.indymedia.org//2004/02/74404.shtml

ARTIKEL MIT IMC POSTINGS SAMMLUNG ZU PROJEKTWERKSTATT AKTIONEN + REPRESSION
Bauhörde will Projektwerkstatt schließen
 http://de.indymedia.org//2004/01/73034.shtml