Russlands (neue) Autokratie

Julia Hoffmann 17.11.2003 16:35 Themen: Repression Weltweit
Putin?s Russland: Versuch einer Antwort auf die Frage ?Who is Mr. Putin? ? kleine Geschichten von Wahlen, Oligarchen und dem Krieg in Tschetschenien

In Russland stehen die Parlamentswahlen und kurz darauf die Praesidentschaftswahlen vor der Tuer. Mit diesem Wissen kann die Verhaftung des Vorstands der Eroeldgesellschaft Yukos Michail Chodorkowskij Anfang November und das Einfrieren der Yukos-Aktien als politisch motiviert gewertet werden. Die Ereignisse der letzten Wochen sind ein weiteres Signal fuer Putin?s autokratisches Machtstreben und fuer das was internationale BeobachterInnen euphemistisch mit ?gelenkte Demokratie? bezeichnen.
Das macht Putin jedoch nicht zu einem neuen Stalin. Im Gegenteil: die juengsten Ereignisse in Russland zeigen, dass Autoritarismus ist keinster Weise unvereinbar ist mit Wirtschaftsbeziehungen zu auslaendischen Investoren und diplomatischer Kooperation mit westlichen Regierungen.
1. Moskau und die Oligarchen ? Deutungsversuche der Yukos Affaere

Anfang November wurde der Chef des Erdoelkonzerns Yukos und Multimilliardaer Michail Chodorkowski festgenommen. Offiziell wird ihm Steuerhinterziehung in grossem Umfang und Veruntreuung von Staatseigentum.vorgeworfen. Mehr als 40% der Yukos-Aktien wurden daraufhin eingefroren, was einen Preissturz an der russischen Boerse ausloeste und auslaendische Investoren Nerven kostete. Die Yukos-Affaere wird als groesste politische und wirtschaftliche Krise der Amtszeit Putin?s gewertet. Durch die Machtprobe mit Yukos gefaehrdet Putin sein Image im Westen ein Garant fuer Stabilitaet und wirtschaftliche Reformen zu sein.

Dieses Image erwarb sich Putin nach anfaenglichem Misstrauen des Westens. Doch nach und nach wurde Putin?s Argumentation toleriert, dass die temporaere Vernachlaessigung der demokratischen Reformen aus taktischen Erwaegungen geschah, um mit Hilfe der wiedererlangten Autoritaet des Staates Ordnung in die Strukturen zur Wirtschaftslenkung zu bringen.
Waehrend die Fassade Putin?scher Politik nach aussen hin demokratisch blieb, sahen sich politische Oppositionelle subtilen oder offenen Repressionen ausgesetzt. Menschenrechtsorganisationen und PolitibeobachterInnen bemaengelten, dass der Pluralismus in Russland, vor allem die Pressefreiheit Schaden nahm, wie im Falle der Ubernahme des unabhangigen Fernsehsenders NTV durch den staatlichen Konzern Gazprom.
Die Exekutive unter Putin wurde unverhaltnismaessig gestarkt, die Geheimdienste und die Armee wurden rehabilitiert. Liberale russische Kritiker wie
Grigorij Jawlinskij warfen Putin vor, seine Strategie ? des selective enforcement sei darauf gerichtet, einen ?korporativen Staat? mit dem Geheimdienst und loyalen Oligarchen an der Spitze aufzubauen.

Die russischen Oligarchen, die durch undurchsichtige Privatisierungsgeschaefte Anfang der 90er reich wurden, sind durch ihren immensen Reichtum heute die einzigen relativ unabhaengigen Machtzentren in Russland und faehig eine politische Herausforderung fuer Putin zu sein. Eine Untersuchung dieser Privatisierungen wuerde wenige von Russlands Milliardaeren ungeschoren lassen. Solange sie sich aus der Politik raushalten, koennen sie sich allerdings relativ sicher sein nicht angetastet zu werden. Dieses stillschweigende Abkommen hat Michail Chodorkowski nun gebrochen und damit den Aerger des Kremls auf sich gezogen.

Die Ermittlungen im Umfeld von Yukos hatten begonnen, nachdem Chodorkowski Anfang dieses Sommers angekuendigt hatte, er wolle im Wahlkampf vor der Parlamentswahl im Dezember den liberalen Parteien Jabloko und Union Rechter Kraefte helfen, die in Opposition zum Kreml stehen.
Er selbst machte kein Geheimnis daraus sich kurz vor den Wahlen 2008 aus der Wirtschaft zurueckziehen zu wollen um in die Politik zu gehen.

Alle, die vor ihm das Stillschhalteabkommen gebrochen haben wie Boris Berezowskij oder Wladimir Gusinskij waren gezwungen das Land zu verlassen. Der Rest hat entweder den Kopf eingezogen oder ist damit beschaeftigt die eigenen Wirtschaftsaktivitaeten ins Ausland zu verlagern, wie Roman Abramowitsch, der kuerzlich seine Oelgesellschaft Sibneft an Yukos verkaufte und etwas vorher den britischen Chelsea Fussballklub einkaufte, was ihm die Sympathie der EnglaenderInnen sicherte.

Die Oligarchie anzugreifen ist populaer in Russland. Laut Meinungsumfragen, denkt die Mehrheit der russischen Bevoelkerung, dass die Oligarchen auf kriminelle Weise durch undurchsichtige Privatisierungsgeschaefte reich wurden. Putin koennte diese Emotionen nutzen wollen um seine Beliebtheit vor den Wahlen im Maerz 2004 zu steigern und um die politischen Ambitionen der Oligarchen zu daempfen.

Die Schritte gegen Yukos und Chodorkowskij koennen auch den Willen zu einer moeglichen Neuverteilung von Reichtum und Besitz bedeuten. Wenn ein Gericht Chodorkowskij fuer schuldig befindet, koennten die Anteile Chodorkowskijs an Yukos reverstaatlicht werden. Analysten, die dieser Theorie anhaengen, sprechen vom ?chinesischen Weg?: Marktwirtschaft unter fester politischer Kontrolle. Andere Laender mit ressourcenabhaengigen, intensiven Wirtschaften vor Russland haben es geschafft autoritaere Regierungen und wirtschaftliches Wachstum zu verbinden, eingeschlossen Japan und Suedkorea.

2. Who is Mr. Putin? ? Praesidialdekret, KGB und die Rolle des Konflikts in Tschetschenien

Als Putin im Jahr 2000 die Macht uebernahm, war eines seiner Hauptanliegen die zerruettete Autoritaet des Kremls wiederherzustellen.
Davon zeugen z.B. die 2000 per Praesidialdekret angeordnete Regionenreform, deren Ziel die Implementierung von sieben Grossregionen war. Fuenf der sieben dadurch geschaffenen Gouverneurposten sind von Mitgliedern des ehemaligen Geheimdienstes oder von hochrangigen Militaers besetzt.

Oder die Rezentralisierung des Geheimdienstes. Anfang der 90er Jahre waren die Befugnisse der Geheimdienste in verschiedene Organisationen unterteilt. Heute sind ehemalige KGB-Funktionaere, zu denen auch Putin gehoert ueber die ganze Regierung verteilt und bilden eine lose Koalition, die allgemein mit dem Begriff Siloviki (woertlich ?die Starken) zusammengefasst werden.

Oder die militaerische Offensive in Tschetschenien, die vor den Wahlen im Maerz 2000 mit zu dem erdrutschartigen Wahlsieg von Putin beigetragen hat . Als Kriegsstimmung schuerend koennte man bezeichnen, dass die Bombenattentate auf Wohnhaeuser in Moskau im August 1999 noch vor Aufnahme der Untersuchungen von Seiten des Kremls mit tschetschenischen Terroristen in Verbindung gebracht wurden. Durch die Attentate starben 300 Menschen: Schockwellen erschuetterten das Land und erzeugten eine Stimmung, die man als ?Ruf nach der starken Hand? beschreiben koennte. Die Mehrheit der RussInnen, die den ersten Tschetschenienkrieg ablehnte, unterstuetzte dagegen den zweiten Tschetschenienkrieg, der offiziell als ?antiterroristische Operation? deklariert wurde .
Die ?Terroristen? hingegen wurden niemals gefunden, was Anlass fuer Vermutungen ueber Verwicklungen mit dem russischen Geheimdienst gab. Die Verschwoerungstheorie ist natuerlich eine zu einfache Erklaerung fuer die ueberraschende Kehrtwende in der russischen Politik Ende 1999, die zu Putin?s Wahlsieg fuehrte. Aber man muss zugeben, dass es bis heute weder zufriedenstellende Antworten auf viele Fragen aus dieser Zeit gibt, noch laesst sich ein Wille im Kreml feststellen eine gruendliche Untersuchung der Ereignisse durchzufuehren, die zur Festnahme der Taeter fuehren koennten um den Geruechten ein Ende zu bereiten.

3. Und die Hueter der Menschenrechte?

Wie reagierte der Westen auf den Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges?
Die internationale Reaktion auf den Beginn der zweiten militaerischen Offensive in Tschetschenien im Oktober 1999 bekraeftigte teilweise sogar die Antizipation des Krieges in Tschetschenien als ?Antiterroristische Operation?. Clintons Bemerkung im Januar 2000, er hege keinerlei Sympathie für die Tschetschenen, war ein grünes Licht für Putin, den Krieg weiterzuführen, bis der letzte Tschetschene vernichtet ist. Sogar den russischen Sprachgebrauch von der 'Befreiung Grosnys' hat Clinton in einem Artikel im Times Magazine wiederholt.

Vom 22.- 23. März 2000 hielt sich eine dreiköpfige Delegation des Bundesnachrichtendienstes (BND) in Russland und Tschetschenien auf. Dies wurde erst Anfang April bekannt. Die Bundesregierung kommentierte den Vorwurf, der BND habe Russland im Tschetschenienkrieg mit Informationen versorgt mit den Worten, das Parlamentarische Kontrollgremium habe keine Einwaende gegen die Reise des BND-Chefs August Hanning nach Tschetschenien. Hannings Besuch habe deutschen Interessen gedient . Die Zeit kommentierte den Vorfall folgendermassen:

?Die Angst vor einem Flächenbrand von Afghanistan bis zum Schwarzen Meer, das neue Feindbild des radikalen Islamismus und vor allem harte Interessen an Ressourcen, Öl und die strategische Lage des Kaukasus, trieben nicht nur den deutschen Geheimdienst zu Kontakten mit dem russischen Partner. Auch die National Security Agency, die britischen Dienste MI-5 und MI-6, der französische Geheimdienst und der israelische Mossad sind im Kaukasus die Speerspitze ihrer Regierungen. Aber nur der BND war unklug genug, tatsächlich nach Tschetschenien zu reisen.?

In einem von der Fernsehsendung ?Monitor? aufgezeichneten Interview mit Nikolaj Kowaljow, dem ehemaligen russischen Geheimdienstchef, sagt dieser, dass es bereits im ersten Tschetschenienkrieg eine Zusammenarbeit mit dem BND gegeben habe. ?Profis sind überall Profis, und so fiel es uns leicht, mit ihnen zusammenzuarbeiten? .

4. Was ist daraus zu lernen?

Wenn westliche Regierungen bereit sind ihre Kritik an Moskau ueber Tschetschenien zu unterdruecken, dann werden sie bestimmt kein grosses Aufheben um die Festnahme von Chodorkowskij machen. Amerikanische Diplomaten beurteilen das Verhaeltnis mit Russland nach wie vor als gut, aber weisen darauf hin dass das Einfrieren der Yukos Aktien ernsthafte Fragen aufwirft. Die Yukos Affaere ist eine Erinnerung, dass im neuen Russland Eigentumsrechte nicht dasselbe bedeuten wie im Westen.
Kontrolle ueber oeffentliches Leben, bei Gewaehrleistung des Respekts vor Privateigentum, ist eine Zukunft fuer Russland, die der Westen tolerieren kann - besonders wenn Putin die Zusammenarbeit fortsetzt in den grossen Fragen der Aussenpolitik.


5. Fussnoten:

1 Putin hat sich wiederholt fuer eine gewlttaetige Loesung in Tschetschenien ausgesprochen.

2 Im November 1999 unterstuetzten 48 Prozent der befragten RussInnen Putin?s ?Antiterroristische Operation? in Tschetschenien. Es galt nahezu als unmoralisch den Kampf gegen den tschetschenischen Terror abzulehnen.
3 Siehe Internet: Völkermord in Tschetschenien. Eine Dokumentation der Gesellschaft für bedrohte Völker:  http://www.gfbv.it/3dossier/cecenia/cec-dt3.html#r3.

4 Siehe Pressemitteilung Reuters vom 13.4.2000.

5 Siehe ?Die Zeit?, Artikel vom 13.4.2000.

6 siehe Fernsehsendung Monitor im April 2000.
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Ergänzungen

World Socialist Website

exploited 17.11.2003 - 20:57
Zum selben Thema gab es vor kurzem einen fast wesensgleichen Artikel auf der World Socialist Website. Es ist für den Verfasser vielleicht auch interessant diesen Artikel zu lesen:

 http://www.wsws.org/de/2003/nov2003/chod-n08.shtml

"Von Clearstream bis Yukos"

Maxim 16.02.2005 - 17:04
Sehr interessante Hintergrundinformationen zu Yukos, zum Sturz von Chodorkowski und zur Verwicklung des deutschen Auslandsgeheimdienstes "Bundesnachrichtendienst" (BND)sowie der USA in diese Affäre sind nachzulesen in einer neunteiligen Artikel-Serie
der Online-Tageszeitung SAAR-ECHO unter www.saar-echo.de.

Der BND und die Yukos-Affäre

Maxim 16.02.2005 - 17:55
Ich möchte auf eine interessante Artikel-Serie der Online-Tageszeitung "Saar-Echo" zum Fall Yukos hinweisen ("Von Clearstream bis Yukos"). Sie liest sich wie ein Wirtschaftsthriller und beschreibt unter anderem die Verwicklung der USA in den Sturz des ehemaligen Yukos-Chefs Chodorkowski sowie die Involvierung des deutschen Auslandsgeheimdienstes BND in diese Affäre. Im amerikanisch-russischen Ölkrieg um Yukos erlitten die USA am Ende eine herbe Niederlage...

Hier der Link: www.saar-echo.de.

Gruss Maxim