Wunsiedel: Geschichte,Ursachen und Folgen

Initiative für rationale Lebensführung 26.08.2003 15:48
Wunsiedel: Geschichte,Ursachen und Folgen
Wunsiedel: Geschichte, Ursachen und Folgen


2600 Faschisten durften in Wunsiedel (Bayern) dieses Jahr den Nazi und Kriegsverbrecher Hess ehren, während keine eigene antifaschistische Veranstaltung zu Stande kam. Wie ist dies zu bewerten? Wo liegen die Ursachen und Gefahren dieser Entwicklung?
Nach seinem Selbstmord im Kriegsverbrechergefängnis Berlin-Spandau 1987 wurde der wegen ?Planung eines Angriffskrieges? und ?Verschwörung gegen den Frieden? zu lebenslanger Haft verurteilte Stellvertreter des Führers, Rudolf Hess, von der deutschen Nazi-Szene sofort zum Märtyrer erhoben und planmässig zur Kultfigur ausgebaut.

?Schon im selben Jahr marschierten die ersten 150 "Sympathisanten" durch Wunsiedel, was sich trotz Verbot und Widerstand der Antifa mehrere Jahre wiederholte, und die Zahl wurde größer. 1990 fand in Wunsiedel der erste gesamtdeutsche Großaufmarsch der Rechten mit etwa 1 000 Personen statt. Weit mehr als 1 000 AntifaschistInnen und Antifaschisten leisteten Widerstand gegen den Aufmarsch. Es kam zu tätlichen Auseinandersetzungen, und das führte dazu, dass in den folgenden Jahren die Heß-Veranstaltungen in Wunsiedel erfolgreich verboten werden konnten. Sie fanden in der Umgebung statt, aber immer gestört und blockiert durch Antifaschisten. So wich man auf bundesweite "Heß-Wochen" aus, dezentrale Veranstaltungen, die aber regelmäßig verboten wurden.? [1]

Erwägungen, dass es vielleicht zumindest unschicklich sein könnte, der offenen Verehrung des Nationalsozialismus und seiner Führungsgestalten keinen Riegel vorzuschieben, hatten, wie in den Jahren zuvor, bei der Entscheidung der Staatsorgane, ob Verbot oder nicht, keine Rolle gespielt. Erst die massive Präsenz von Antifaschisten, die laut Polizei im Gegensatz zu den braunen Horden ?ein enormes Sicherheitsrisiko? darstellten, so dass die ?Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung nicht mehr zu gewährleisten? war, hatte für den Nazi-Toten-Kult das Aus bedeutet. Zehn Jahre lang blieb Wunsiedel dank dem Engagement von autonomer, antifaschistischer und bürgerlicher Seite vom Nazi-Spuk verschont, zehn Jahre die Opfer des NS-Terrors wenigstens an diesem Ort nicht öffentlich verhöhnt.

Natürlich versuchten Faschisten aus dem In- und Ausland auch weiterhin, das Grab des Kriegsverbrechers zur nazistischen Pilgerstätte werden zu lassen. Im August 2001 war es dann wieder soweit, und die braunen Banden durften dank einem Urteil des bayrischen Oberverwaltungsgerichtes erneut marschieren. Einerseits hatte sich das gesellschaftliche Klima hin zu einer stärkeren Akzeptanz militanter Verherrlichung des Nationalsozialismus verschoben. Andererseits prognostizierten die ?Extremismus-Experten?, dass mit einer antifaschistischen Gegenwehr wie in den 90er Jahren nicht mehr zu rechnen sei. Und da in der Vorstellungswelt der Staatsbüttel die Nazi-Gegner das einzige Problem darstellen, konnte der Aufmarsch also wieder durchgeführt werden. Den Behörden kann dabei nicht entgangen sein, welch unglaublichen Gefallen sie den braunen Kameraden mit ihrer Appeasement-Politik getan haben. Nachdem 2001 bereits 800 Hitler-Jünger zum Grab ihres Vize-Führers marschierten, stieg die Zahl der Braunhemden 2002 explosionsartig auf über 2500 an. Der deutschen Nazi-Pest war es gelungen, einem NS-Heldenmythos Leben einzuhauchen, der nun auch ihre Gesinnungskameraden aus dem Ausland magisch anzog. Am Aufmarsch nahmen u.a. Faschisten aus Schweden, Dänemark, Finnland, Frankreich, Holland, Italien, Österreich und der Schweiz teil. Der Hess-Gedenk-Marsch war damit zu einer absoluten NS-Kult-Veranstaltung avanciert.

Für die Gegenmobilisierung der Antifa sah es dagegen 2002 eher schlecht aus. Nicht nur, dass die deutschsprachige Linke in einem Klima der Agonie und allgemeiner Aktionsfeindlichkeit, die, um von der eigenen Trägheit abzulenken, mit abenteuerlichsten Reformismus- oder Antisemitismusvorwürfen, einher gingen, gefangen war. Einige ex-linke Sektierer gingen sogar zum offen Angriff über, und scheuten sich dabei nicht Antifa-Arbeit zu sabotieren und linke Strukturen lahm zu legen. Die selbsternannten ?Anti?Deutschen um den Herzogenauracher Ex-Antifa X und den Würzburger Ultra-Rassisten X [2] nahmen die Mobilisierungs-Webseite gegen den Hess-Gedenkmarsch 2002 vom Netz [3], um Werbung für ihr neues Kriegspropaganda-Blättchen Brüche (?Bombs not Food?) [4] zu machen. Nach eigenen Angaben war das Ziel ?auf die Zusammenrottung der, und dies nach eigener Maßgabe, autonom organisierten deutschen, wohlgemerkt Antifa-, Banden demobilisierend einzuwirken?. `Begründet` wurde die verlogene Anti-Antifa-Aktion mit einer CDU-gerechten Gleichsetzung von Faschismus und Antifaschismus, der Relativierung von Nazi-Verbrechen, und einer den freien Kameradschaften würdigen ?Kriegserklärung? an die Antifa [5], die in dem Wunsch nach Vernichtung selbiger kumulierte. Nachdem 2002 in Wunsiedel 2500 Nazis 500 Gegendemonstranten gegenüberstanden, und 2003 überhaupt keine Antifa-Veranstaltung mehr stattfand [6], kann man der Brüche-Redaktion wohl gratulieren.

Natürlich ist das Scheitern der Massenmobilisierung nicht allein dem Vernichtungswahn der Anti-Antifas von der Brüche-Redaktion zuzuschreiben. Vielmehr konnte eine solch unglaubliche Aktion nur in einem Klima stattfinden, in dem totalitarismustheoretisch aufgerüstete Kriegstreiber und Wohlstandschauvinisten mit ihrer aufgewärmten ?der Feind steht links!?-Propaganda die Lufthoheit über den linken Stammtischen hatten. Jede Form von politischem und sozialem Engagement, vor allem für die Entrechteten und Unterdrückten, wurde mit inflationären Antisemitismus-Vorwürfen belegt, und das von der Rechten übernommene Konzept, ausschließlich in Kategorien der Nation, sprich nationalen Kategorien, zu denken, konnte innerhalb der Linken mehr Anhänger verbuchen als jemals zuvor. Nur so konnte es soweit kommen, dass sich gegen die in Kooperation von Nürnbergern und Würzburgern durchgeführte Anti-Antifa-Aktion so wenig Widerspruch, oder gar Widerstand regte. Vielleicht wurde auch nur deswegen so wenig Aufhebens um die Demobilisierungs-Kampagne der ?Anti?Deutschen gemacht, weil sich die meisten Antifas schon mit dem immer neuen Irrsinn, der aus dieser Ecke kam, abgefunden hatten, und versuchten diese wahnhaften Gestalten einfach nicht mehr zu beachten.

In der (linken) Presse zum 16.August 03 fanden die aggressiven ex-linken Sektierer jedenfalls keine Erwähnung. Die Polizei spricht von 2600 Hess-Marschierern, während die Faschisten ihre Zahl ihrem Größenwahn entsprechend mit 5600 angeben. [6] Davon sollen laut Staatsmacht 67, laut Nazis bis zu 80 Personen verhaftet worden sein, unter anderem wegen dem Mitführen von Baseballschlägern. Die 400-500 Gegendemonstranten auf der bürgerlichen Gegenkundgebung hatten auch insofern einen schweren Stand, als die Polizei, seitdem die Nazis die Mehrheit in Wunsiedel stellen, keinen Grund mehr sieht die Minderheit vor Übergriffen zu schützen. Die Nazis konnten sich nach Angaben von Augenzeugen vollkommen frei bewegen - teilweise sogar in der Gegenveranstaltung - verhöhnten Antifaschisten und bürgerliche Nazigegner und nahmen einigen ihre Transparente und Schilder ab.

Leider ist davon auszugehen, dass die Zahl der Hess-Verehrer in Wunsiedel in Zukunft noch weiter ansteigen wird. Das hat z.B. mit der Sicherheit zu tun, die die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts den Faschisten laut eigener Aussage bietet. Während bisher viele, die nicht als mutige Vorkämpfer sondern als Mitläufer oder schlichte Anhänger der nationalen Bewegung dem Treiben ferngeblieben sind, weil für sie das hin und her mit den Verboten die Veranstaltung doch etwas obskur machte, werden solche Leute in Zukunft das Hess-Grab stärker frequentieren. Dazu gehört auch jener Teil der Nazis, der sich aus Staatsvergottung niemals mit Sicherheitskräften anlegen würde (nicht mal mit den ?demokratischen?), und aus Unkenntnis über das staatliche Entgegenkommen deshalb bisher zu Hause blieb. Das BVG-Urteil ist den Nazis in vielerlei Hinsicht ein Vorteil. So wird den braunen Kameraden durch die Aussage, dass von ihren Aufmärschen grundsätzlich keinerlei Gefahr ausgeht, ein Persilschein zur Jagd auf Flüchtlinge, Obdachlose, vermeintliche Homosexuelle und Linke erteilt.

Dass dieser Erfolg den Faschisten einiges bedeutet, läßt sich an ihrer überschwenglichen Reaktion noch am gleichen Abend ablesen: Unter anderem wurden zwei Jugendtreffs überfallen und zahllose Übergriffe begangen [7]. Schon im Vorfeld von Wunsiedel fanden zahlreiche Hess-Ehrungen in ganz Deutschland und dem benachbarten Ausland statt [8]. Die Zeit um Hess-Todestag wird für Faschisten vieler Nationen zur Phase erhöhter Aktivität und ekstatischer Gewaltausbrüche. Natürlich sollte eine antifaschistische Linke alles daran legen, eine solche ?Normalisierung? der Straßenherrschaft der Nazis zu unterbinden, und ihnen den Spass an ihren Massenaufmärschen zu nehmen. Dass das Bedürfnis und der Wille dazu sehr wohl vorhanden sind, hat sich in den zahlreichen, teilweise verzweifelten linken Aufrufen in der Zeit vor dem 16.08. gezeigt [9]. Doch ohne Organisation ist natürlich auch das verzweifelte Engagement von Einzelpersonen zum Scheitern verurteilt! Dass wir die Strukturen, die Dank der Angriffe ex-linker Renegaten und eigener Lethargie zerstört werden konnten, wieder aufbauen, ist die wichtigste Voraussetzung, um den Nazis wieder effektiv entgegentreten zu können. Auf staatliche Organe kann im Kampf gegen den Nazismus selbst der Naivste nicht mehr ernsthaft setzen. Helfen wir uns selbst!

Bauen wir linke, antifaschistische Strukturen wieder auf! Diesmal ohne Wohlstandschauvinisten, Kulturkrieger, Bushisten, Arbeiterfeinde, Rassisten, Kriegstreiber, Frauenfeinde, Staatsfreunde und ähnliches Geschmeiss!


Organisiert Euch ? Solidarität ist eine Waffe!

Faschismus endgültig zerschlagen!


[1] UZ vom 09.08.02: ?Am 17.August nach Wunsiedel?  http://www.dkp.de/vorOrt/nbayern/bayrkulm/34320601.htm
[2] X ist sogar in ?anti?deutschen Kreisen als extremer Rassist verschrieen. ?Die Antideutschen streiten sich?:  http://de.indymedia.org//2003/03/45074.shtml
[3] ?Würzburg und der Hess-Aufmarsch?:  http://de.indymedia.org/2002/08/27661.shtml
[4] ?Gebrochene Querfront?:  http://de.indymedia.org/2002/09/30315.shtml
[5] Brüche: ?Aktionen des >>Antifa-Spektrums<< ... denen seit jeher der Krieg gebührt?
[6] Aktuelle Artikel zu Wunsiedel 2003 auf Indy:
?2600 Nazis marschieren in Wunsiedel?: http://www.de.indymedia.org/2003/08/59876.shtml
?Brauner Marsch in Wunsiedel (jw)?:  http://de.indymedia.org//2003/08/59874.shtml
[7] z.B.: Presseerklärung des Jugendzentrums Zora :  http://www.de.indymedia.org/2003/08/60085.shtml
[8] z.B.: ?100 Nazis bei Hess-Gedenken in Wittstock?:  http://de.indymedia.org//2003/08/59086.shtml
[9] Beispiele für linke Aufrufe:
?Nazi Aufmarsch in Wunsiedel 2003?:  http://de.indymedia.org//2003/08/59641.shtml
?Nazi-Aufmarsch im Fichtelgebirge?:  http://de.indymedia.org//2003/08/59674.shtml

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Hinweiser 26.08.2003 - 16:03
Dieser Text wurde bereits am 21.8. gepostet:  http://de.indymedia.org/2003/08/60105.shtml

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