Soziale Bewegungen ziehen ins bolivianische Parlament ein

Yvonne Zimmermann 11.07.2002 17:45 Themen: Weltweit
Evo Morales Ayma ist Präsident der Kokabauern-Vereinigung in Chapare und Symbol des Kampfes gegen die neoliberale Politik in Bolivien. Seit vier Jahren ist er Abgeordneter des MAS (Bewegung zum Sozialismus) im Parlament, und in den Wahlen vom 30. Juni hat er laut den letzten Auszählungen knapp 21 Prozent der Stimmen erhalten. Damit ist Evo Morales auf den zweiten Platz gelangt, und mit ihm werden soziale und Indio-Bewegungen erstmals als ausschlaggebende Kraft im Parlament vertreten sein.
Ein Interview mit Morales.
Interview mit Evo Morales
Yvonne Zimmermann, La Paz, 7.7.02

Evo Morales Ayma, 43jährig, ist Präsident der Kokabauern-Vereinigung in Chapare und Symbol des Kampfes gegen die neoliberale Politik in Bolivien. Seit vier Jahren ist er Abgeordneter des MAS (Bewegung zum Sozialismus) im Parlament, und in den Wahlen vom 30. Juni hat er laut den letzten Auszählungen knapp 21 Prozent der Stimmen erhalten. Damit ist Evo Morales auf den zweiten Platz gelangt und hat Chancen, zum neuen bolivianischen Präsidenten werden, denn die Endauswahl fällt das Parlament zwischen den zwei stärksten Kandidaten, in diesem Fall Evo Morales und Gonzalo Sánchez de Lozada des MNR (Revolutionäre Nationalistische Bewegung), der rund 22,5 Prozent der Stimmen erhalten hat.
Diese Wahlen leiten einen Wandel in Bolivien ein: Zum ersten Mal werden die Indio-Bevölkerung und die anti-neoliberalen Bewegungen als Ausschlag gebende Kraft im Parlament vertreten sein. Bisher waren in dem Andenland, das zwischen dem modernen, reichen Bolivien der Weissen und dem armen, wenig entwickelten Bolivien der Indios zweigeteilt ist, letztere praktisch von der Politik ausgeschlossen. Laut Morales werden sie nun als Opposition im Parlament oder als Regierungspartei die neoliberale Politik, die Bolivien in den letzten 17 Jahren dominiert hat, nicht nur stoppen, sondern rückgängig machen.

yz: Zum ersten Mal ziehen die sozialen und Indio-Bewegungen als Ausschlag gebende Kraft ins Parlament ein. Evo Morales, wie kam dieser Erfolg zustande?

Evo Morales: Wir, die indigenen Völker, haben uns ein eigenes politisches Instrument geschaffen angesichts der Tatsache, dass sich der Reichtum und der Boden in den Händen einiger Weniger konzentriert und die Mehrheit der Bevölkerung in Armut lebt. In den Wahlen benutzten uns die korrupten Politiker, kauften uns mit Geld, mit Geschenken und Versprechen. In den jüngsten Wahlen hat sich das geändert: Die Millionärs-Parteien können das Bewusstsein des bolivianischen Volks nicht mehr kaufen. Das hat uns natürlich ermutigt, aber macht uns auch nervös. Denn wenn wir die zweite politische Kraft werden, können wir das Präsidentenamt übernehmen. Das erschreckt uns ein bisschen, da bin ich ganz ehrlich. Wir sind nervös, denn wir dachten nicht, dass wir so weit vorne landen würden. Wir erwarteten etwa 15 Abgeordnete, jetzt haben wir 25, und da die Zählungen noch nicht abgeschlossen sind, könnte die Zahl sogar noch auf 27 ansteigen. Zudem haben wir 8 Senatoren.
Das ist ein anti-systemisches Denken, das sich hier manifestiert. Die BolivianerInnen sind Opfer des neoliberalen Modells, und bewusst haben sie unser politisches Projekt unterstützt, das diesem Modell entgegensteht.

Kurz vor den Wahlen hat US-Botschafter Manuel Rocha interveniert. Er drohte mit einem Ende der Unterstützung der USA an Bolivien, wenn du zum Präsident gewählt würdest, und sagte damit praktisch: Wählt nicht Evo. Was war die Wirkung dieser Warnung?

Vor einem oder fast zwei Monaten führte die US-Botschaft eine Umfrage durch, und da war unsere Partei die zweitstärkste Kraft. Das bereitete dem Botschafter natürlich Kopfschmerzen, umso mehr, als dass die Unterstützung für uns weiter anstieg. Deshalb intervenierte er, er wollte unsere Stimmen verringern. Es kann sein, dass an einigen Orten die Unterstützung für unsere Partei gesunken ist, anderen Orten ist sie gestiegen. Klar ist, dass es viel Reaktion auf die Intervention der USA gab. Vielleicht hat die Erklärung des Botschafters die obere Mittelklasse erschreckt. Gleichzeitig aber haben viele Junge gesagt: Evo ist jung und anti-imperialistisch. Mit Evo kämpfen wir für unsere Unabhängigkeit, für unsere Freiheit.

Zu Beginn des Jahres fanden in Bolivien Auseinandersetzungen zwischen den Kokabauern und den Sicherheitskräften statt. Die Bauern protestierten mit Strassenblockaden gegen den Plan der Regierung, sämtliche Kokapflanzen zu vernichten. Die Regierung liess die Gegend Chapare militarisieren, es kam zu einer Repressionwelle gegen die Bauern und gegen dich selbst. Beeinflussten diese Ereignisse die Wahlergebnisse?



Die sozialen Kämpfe sind schon immer von den Regierungen kriminalisiert worden. In diesem Rahmen ist Evo zum Feind Nummer eins des neoliberalen Systems und der US-Botschaft geworden. Letztere hat eine Liste der Führungspersonen der sozialen Bewegungen, die sie als störend ansieht, und auf der bin ich ganz zuoberst. Im Januar dieses Jahres haben die fünf grossen Parlamentsparteien auf Anordnung der US-Botschaft beschlossen, Evo Morales aus dem Parlament zu entfernen. Eines Samstags wurden alle Führungspersonen der Kokabauern-Vereinigung verhaftet, ausser einer. Damit wollten sie die Kokabauern-Vereinigung fertig machen und mich ins Gefängnis stecken. Nach vielen Mobilisierungen stieg unsere Bewegung gestärkt aus diesem Konflikt. Dank der Kraft der Quechuas, Aymaras und des Kokablatts. Nicht zuletzt deswegen haben wir in diesen Wahlen triumphiert.

Die Bewegung der Kokabauern ist in den letzten Jahren zu einer der stärksten sozialen Bewegungen in Bolivien geworden. Was war der Grund, dass sie jetzt ins Parlament einzieht?

Unseren Kampf können wir ausserhalb des Parlaments führen, das ist klar. In den Wahlen jedoch benutzen uns die politischen Parteien, und nachdem sie mit unseren Stimmen gewonnen haben, bestrafen sie uns. Deshalb kam die Frage auf: Warum können wir nicht unsere eigenen Akteure stellen und für uns selber wählen? Warum entscheiden wir nicht selber, statt den anderen die Macht zu verleihen, über uns zu entscheiden? Wir beschlossen, die Macht und unser Land zurückzugewinnen, für die Quechuas, Aymaras, Guaranís, gemeinsam mit den ArbeiterInnen. Und jetzt zittern die Gegner. Gleichzeitig steigt die Gewissheit, dass unsere Bewegung unaufhaltsam ist. Ob mit oder ohne Evo Morales wird sie weiterfahren und stärker werden.
Natürlich ist da ein grosses Risiko: Die Verfolgung ist da, wie zu Beginn des Jahres. Stell dir vor: Wir greifen die Multis an, die neoliberale Politik, und da sind grosse Interessen. Deshalb bereiten wir uns vor, wir haben Komitees zur Verteidigung der Souveränität gebildet, und mit diesen wollen wir den Kampf des bolivianischen Volkes verteidigen.
Wir sind jetzt die fast zweite Kraft im Parlament. 8 Senatoren, 25 Abgeordnete. Jetzt fehlen uns noch 1948 Stimmen, um die zweite Kraft im Parlament zu werden, und dann haben wir Chancen, die Regierung zu übernehmen, anstelle von Gonzalo Sánchez de Lozada.

Wenn du Präsident wirst: Habt ihr ein Regierungsprogramm oder habt ihr euch auf die Ausarbeitung eines Oppositionsprogramm beschränkt?

Klar haben wir ein Programm, und das basiert auf den Vorschlägen der Bewegung. Es steht im Rahmen einer anti-neoliberalen und antikapitalistischen Position. Dabei geht es um eine Neugründung des Landes. Wir wollen die Regierung der politischen Mafia beenden. Diese regiert nicht, sondern verhandelt um das Land. Zudem haben die Reichen so viele Jahre vom Geld des Landes profitiert, dass jetzt die Armen profitieren sollen. Das neoliberale System ist gescheitert, und jetzt sind die Armen dran. Der Staatskapitalismus ist zu Ende, jetzt sind die Völker dran. Wir wollen selbstverwaltete Betriebe statt Staatsbetriebe und Multis. Klar muss der Staat diese kollektiven, selbstverwalteten Betriebe fördern, muss den Kampf für die Selbstbestimmung seiner Völker stärken. Dies ist die Achse unseres Programms.

Welche konkreten Schritte werdet ihr unternehmen?

Auf der politischen Ebene geht es um die Neugründung des Landes. Auf der wirtschaftlichen Ebene geht es darum, die Privatisierung zu beenden und rückgängig zu machen. Wir wollen unsere Betriebe und die natürlichen Ressourcen zurückgewinnen, denn wir können nicht zulassen, dass sie einigen wenigen transnationalen Korporationen gehören. Auf der sozialen Ebene wollen wir die Korruption und die Repression beenden, zum Beispiel die Tatsache, dass der Staat Söldner finanziert. Diese Gelder müssen für soziale Ausgaben kanalisiert werden, für Bildung und Gesundheit. Im Bereich der Justiz ist es wichtig, das System der Ungerechtigkeit mit dem der Gerechtigkeit zu ersetzen. Heute wird Gerechtigkeit genannt, was gekauft werden kann, Recht hängt vom Geld ab. Damit soll Schluss sein.
Die Korruption wird nicht Evo Morales gegenüberstehen oder dem MAS, sondern den sozialen Bewegungen, dem Volk.

Wie steht ihr den neoliberalen Plänen gegenüber, wie dem Freihandelsraum der Amerikas (FTAA), der im Jahr 2005 in allen amerikanischen Staaten ausser Kuba eingeführt werden soll?

Stell dir vor, was NAFTA in acht Jahren mit Mexiko gemacht hat: Die Armut und die Arbeitslosigkeit sind angestiegen, Bauern haben ihr Einkommen verloren, um nur zwei Dinge zu nennen. Das FTAA hat ein viel grösseren Ausmass und wird verheerende Wirkungen zeigen. Eine Handvoll Multis wird vom FTAA profitieren. Der Freihandelsraum der Amerikas ist ein Plan des Hungers und des Elends. Wir müssen uns ihm mit aller Kraft entgegenstellen.
Konkret werden wir die nationale Produktion fördern, und das heisst, dass wir dem freien Markt Steine in den Weg legen. Wir wollen die wirtschaftlichen Reformen rückgängig machen, die mehr Ungerechtigkeit, mehr Ungleichheit und mehr Armut gebracht haben.

Habt ihr alternatives Programm zur Kokavernichtungspolitik der jetzigen Regierung?

Klar, wir verteidigen das Kokablatt, wir wollen es vermarkten, exportieren und industriell verarbeiten. Das ist ein Plan zu einer konstruktiven Verwendung des Kokablatts, nicht für den Drogenmarkt. Die Droge ist nicht für uns, sie hat nichts mit unserer Kultur zu tun.

Natürlich werden eure GegnerInnen versuchen, die Bewegung zu spalten, Abgeordnete zu kaufen...

Das macht mir Angst, da bin ich ganz ehrlich. Wir sprechen von den Interessen der transnationalen Korporationen, und die können leicht zehn- oder zwanzigtausend Dollar aufwerfen, um einen Parlamentarier zu kaufen. Einige Leute sind schwach, wenn ihnen Geld angeboten wird.
Aber gleichzeitig wird es eine soziale Kontrolle geben. Nicht Evo Morales kontrolliert die Abgeordneten mittels Abkommen und so weiter, die Kontrolle kommt von der Bewegung.

Und im Parlament? Werdet ihr mit anderen Parteien Allianzen bilden, zum Beispiel mit der Indio-Partei MIP von Felipe Quispe, die erstmals mit rund sechs Abgeordneten vertreten sein wird?

Mit dem MIP ist eine Allianz wünschenswert, weil er sich wie wir gegen das neoliberale Modell stellt. Mit den neoliberalen Parteien hingegen kommt eine Zusammenarbeit nicht in Frage. Wir werden im Parlament, wenn wir Opposition sind, die Blockaden der neoliberalen Politik weiterführen. Das ist eine neue, friedliche Form des Protests. Viele Leute stören sich daran, wenn wir mit unseren Mobilisierungen die Strassen blockieren. Jetzt führen wir die Blockaden auch im Parlament durch, auf eine friedliche Weise. Wenn diese Form des Protests keine Wirkung zeigt, werden wir auf die militantere Form zurückgreifen müssen.

Der Sieg des MAS und damit der sozialen Bewegungen in den Wahlen ist ein politisches Erdbeben. Gleichzeitig ist klar, dass er einigen Sektoren nicht gefällt, beispielsweise der US-Botschaft oder den Multis, und eine Intervention ist nicht ausgeschlossen. Wie seht ihr das?

Sieh, das Volk kämpft für die Würde. Den Leuten gefällt es nicht, dass sie dominiert werden, und sie beginnen sich immer mehr dagegen zu wehren. Deshalb ist die Bewegung so stark angewachsen, deshalb hat MAS so viele Stimmen gekriegt, und immer mehr soziale Organisationen schliessen sich uns an. Bevor ich dich traf, beim Eingang dieses Gebäudes warteten mehrere Leute von sozialen Organisationen auf mich, um mit mir genau darüber zu sprechen.
Es ist wichtig, dass wir mit den Bewegungen zusammenarbeiten, die auf der ganzen Welt gegen die Ungerechtigkeit, gegen die Ungleichheit sowie gegen den Neoliberalismus kämpfen und die Umwelt schützen. Wir hoffen auf die Unterstützung der Bewegungen in anderen Ländern: Falls wir die Regierung übernehmen, ist eine wirtschaftliche Blockade gegen uns durchaus wahrscheinlich. Das wird uns nicht abhalten, mit unserer Politik weiterzufahren, aber wir brauchen die Unterstützung anderer Bewegungen.
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Ergänzungen

ein neuer toledo?

äusserst skeptisch 11.07.2002 - 18:30

kein Vergleich zu Toledo

und kein Grund zur Skepsis 12.07.2002 - 01:09
Evo Morales hat tatsächlich eine Verknüpfung zur Basis. Die Regierung hat versucht, ihn als Abgeordneten aus dem Parlament auszuschliessen, aufgrund der starken Proteste und Strassenblockaden der Coca- BäuerInnen ist ihm dies nicht gelungen. Die Situation auf dem lateinamerikanischen Kontinent ist mit der europäischen nicht vergleichbar: Während der Slogan der Nachbarschaftsversammlungen in Argentinien "Que Se Vayan Todos", Alle PolitikerInnen sollen gehen, lautet, ist die ökonomische Krise auch in Brasilien und anderen Ländern spürbar. Für alle ist sichtbar, daß der Neoliberalismus nicht mehr funktioniert (Argentinien war früher IWF- Musterbeispiel), und auch eine Sozialdemokratie hat da wenig Chancen. Da ist Evo Morales ernst zu nehmen: die sozialen Bewegungen wollen eine andere Welt.

friede freude eierkuchen

comrade 12.07.2002 - 16:21
na wenn die sozialen bewegungen erstmal im parlament sind , dann kann ja nichts mehr schief gehen.

wozu brauchen wir da noch ´ne soziale revolution?

smash kapitalism!

Vorsicht vor der Reaktion

Karl Licht 12.07.2002 - 19:01
Wirklich bemerkenswert und hoffnungsvoll, was sich so alles in den letzten Monaten vor allem in Südamerika tut - gerade in Argentinien und in Bolivien. In Argentinien ist die Protestbewegung massenhaft und das Faszinierendste finde ich persönlich ist, daß der "manufactoring consent" (um es mal chomskymäßig auszudrücken;-) ohne Ende den Bach runtergeht. Die herrschenden Klassen versuchen es jetzt panikartig mit nackter Repression (siehe Ereignisse des 26/06 - die beiden toten Piqueteros). Eine Überreaktion, die der Protestbewegung eigentlich nur noch mehr Stärke und Legitimation verleiht.
Der gefährliche Knackpunkt hierbei - und auch beim obigen Beispiel für Bolivien - ist doch folgender: aus Sicht der Herrschenden wird es wahrscheinlich bald notwendig werden, auf die Karte "völlige Repression" (Militärdiktatur/Polizeistaat...) zu setzen. Hat sich der "manufactoring consent" der Herrschenden schon so weit aufgelöst, daß sozialistische und antikapitalistische Ideen auch ausreichend stark bei Militär, Paramilitär, Polizei verankert sind? Zu welchen Mitteln werden multinationale Konzerne, die USA und die EU greifen, um den Neoliberalismus zu retten?
Ist´s schon so weit, Spenden zu sammeln für Waffen für die Piqueteros - wer weiß???