Trauma: Unterstützung für Genua-Überlebende (dt.)

Anonym 07.08.2001 21:55 Themen: Repression
Die deutsche Übersetzung des Artikels von Starhawk zum Thema Trauma, Nachsorge, Unterstützung von Opfern der Polizeigewalt
(engl.:  http://de.indymedia.org/2001/08/5939.html)
Vorbemerkung: Manchen mag der folgende Text zu "psychologisierend" erscheinen. In der Tat kümmert er sich um eine Sache, die in der linken, aktionistisch orientierten Szene gern vernachlässigt wird: Nachsorge. Damit ist in diesem speziellen Fall die psychologische Nachsorge gemeint, die der Tatsache Rechnung trägt, daß viele Aktivisten in Genua extremen psychischen Streß zu ertragen hatten. Da der Text in dieser Hinsicht sehr kompetent ist, habe ich ihn übersetzt, obwohl mir die esoterischen Bezüge der Autorin nicht behagen.

Trauma-Unterstützung für Genua-Überlebende

Übers. aus dem Englischen:  http://de.indymedia.org/2001/08/5939.html

Von Starhawk -  http://www.starhawk.org

Genua war ein Gemetzel. Unsere Freunde und Genossen sind brutal zusammengeschlagen, gefoltert und inhaftiert worden. Manche von ihnen sind so schwer verletzt worden, daß sie sich nie ganz davon erholen werden. Keiner von uns wird in emotionaler oder politischer Hinsicht wieder ganz derselbe sein.

Diejenigen von uns, die es am schwersten getroffen hat, brauchen unsere Unterstützung. Und auch die, denen es besser erging, sollten wissen, wie sie mit traumatischen Erlebnissen umgehen und die Symptome des Posttraumatischen Belastungssyndroms (post traumatic stress syndrome / PTSD) erkennen können.

Einige dieser Symptome werden im Folgenden beschrieben. Jedes einzelne von ihnen stellt eine normale menschliche Reaktion auf traumatische Erlebnisse dar, aber ihre Dauer und Intensität können sie zum potentiell lebensbedrohlichen Posttraumatischen Belastungssysndrom bündeln. Wenn du drei Monate nach den Ereignissen immer noch starke Symptome der folgenden Art hast, kann es sein, daß du professionelle Hilfe brauchst. Die Stärke des Traumas hängt von unserer eigenen persönlichen Biographie und dem Grad an Gewalt ab, dem wir ausgesetzt waren. Menschen, die eine von Gewalt bestimmte Kindheit hinter sich haben, oder die schon einmal eine Vergewaltigung, eine schwere Körperverletzung oder Mißbrauch irgendeiner Art über sich ergehen lassen mußten, sind besonders verwundbar.

Einige Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung:

- Deine Ernährungs- und Schlafgewohnheiten ändern sich drastisch. Manche Betroffenen haben keinen Appetit oder sind schlaflos. Andere können mit beidem nicht aufhören.

- Du kannst die schrecklichen Erfahrungen nicht verarbeiten. Sie drehen sich wie ein Karrussell in deinem Kopf.

- Du hast keinen Zugang zu deinen Gefühlen.

- Du bist depressiv, hast an nichts mehr Spaß.

- Du erfährst unkontrollierbare Wutgefühle oder -ausbrüche (Wut ist eine normale Reaktion auf das, was geschehen ist, aber selbstzerstörerische Wut oder Wut, die sich auf die falschen Ziele richtet, könnte ein Symptom sein).

- Du trinkst ungewöhnlich viel Alkohol oder nimmst Drogen, um dich beruhigen oder abzulenken (Selbstmedikation).

- Du leidest an Furcht, ständiger Ängstlichkeit, Panikattacken und Phobien (Angstzustände ohne erkennbaren Bezug zur Realität)

- Du hast Schuldgefühle und bezichtigst dich selbst. Augenzeugen, die nicht selbst zum Opfer wurden, sind möglicherweise für die sogenannte "survivor's guilt" anfällig, d.h. für Schuldgefühle, die aus der Überzeugung entstehen, nicht rechtzeitig eingeschritten zu sein, oder andere nicht vor Verfolgung und Terror geschützt zu haben ("Warum sie und nicht ich?")

- Du spürst überwältigenden Kummer.

- Du kannst kein normales Leben führen, Pläne machen oder Entscheidungen fällen.

- Du schämst dich.

- Du hast Selbstmordgedanken.

Was du tun kannst, um dir selbst zu helfen:

- Setz dich in Verbindung mit deinen Freunden und Bekannten. Kontakt ist wichtig! Isoliere dich nicht selbst!

- Denk daran - was passiert ist, ist nicht dein Fehler. Du brauchst dich nicht zu schämen oder schuldig zu fühlen, obwohl diese Gefühle im Zusammenhang mit traumatischen Erlebnissen normal sind. Die Schuld liegt bei denen, die geschlagen, gefoltert und gemordet haben, und bei denen, die die Befehle dazu gaben, nicht bei dir. Du bist mit einer extrem brutalen Situation umgegangen, so gut es eben ging.

- Nach Genua zu gehen, war ein Beweis für deinen Mut, deine Entschlossenheit und deine moralische Integrität. Lass dir nichts anderes einreden. Du kannst stolz auf dich sein!

- Freunde und Familienmitglieder, die mit deiner Situation nicht klarkommen, machen alles möglicherweise noch schlimmer. Du hast das Recht, dich abzugrenzen und nach echter Hilfe Ausschau zu halten.

- Denk daran, daß Menschen die allerschrecklichsten Efahrungen überleben, und daß sie dadurch gestärkt werden. Aber deine eigene Erholung kann zeitaufwendig sein. Kümmer dich jetzt nicht um die Frage, ob du je wieder politisch aktiv sein kannst. Dich zu erholen ist politische Arbeit!

Was du tun kannst, um deine Freunde zu unterstützen:

- Kümmer dich um sie. Kontaktiere sie. Lass sie nicht in Isolation abgleiten. Ich bin besonders um die besorgt, die möglicherweise allein nach Genua gegangen sind, oder die daheim keine Freunde haben. Sie müssen mit Leuten in Kontakt treten, die dort waren und die einen Begriff von dem haben, was dort vorgefallen ist.

- Halte den Kontakt aufrecht. Ruf sie an, frag sie wie es ihnen geht, frag sie danach, ob sie schlafen können. Denk daran, daß manche Menschen glauben, sie seien ok, daß die Trauma-Effekte aber erst später einsetzen. Dein Kontakt wird möglicherweise über Monate gebraucht, nicht nur ein paar Tage lang.

- Hilf ihnen, sich auszusprechen. Sie werden ihre Geschichte erzählen müssen, vielleicht immer und immer wieder. Am besten hören andere zu, die ähnliches erlebt haben und wissen, was los war, aber wenn das nicht möglich ist, sollte jemand zuhören, der die volle Bandbreite ihrer Gefühle akzeptieren kann und ihnen nicht ein Patentrezeopt überstülpt, das die Gefühle einfach wegmacht.

- Kauf für sie ein, koch ihnen was, mach für sie daheim sauber. Erleichtere ihnen Alltagsaktivitäten.

- Begleite sie im Alltag (Behördengänge, Besorgungen).

- Sei ihnen eine Stütze in medizinischen, juristischen oder psychischen Fragen. Hilf ihnen, Termine zu machen und einzuhalten. Geh mit ihnen hin. Hilf ihnen Formulare auszfüllen und Briefe zu schreiben. Hilf ihnen bei der Suche nach geeigneter professioneller Unterstützung.

- Unterstütze sie in beruflichen oder schulischen Angelegenheiten.

- Unterstütze eventuell ihre Familienmitglieder oder Freunde, denen es auch dreckig geht.

- Sei ihnen eine Unterstützung (oder ein Schutz) im Kontakt mit Familienmitgliedern, Beziehungspartnern oder Freunden, die mit der Situation nicht klarkommen und sich wenig hilfreich verhalten. Möglicherweise werden diese Menschen wütend auf dich, wenn du dich so verhältst. Versuche ihnen sanft die Wahrheit über die Vorfälle beizubringen.

- Hilf den Betroffenen dabei, sich Gehör zu verschaffen, aber achte auf ihre Bedürfnisse. Manchen hilft es, ihre Geschichte laut und deutlich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Du kannst die Medien darauf aufmerksam machen oder du kannst sie mit Gruppen von anderen Betroffenen in Verbindung bringen. Für andere hingegen wäre die Veröffentlichung ihrer Geschichte zu stressig oder sogar eine Retraumatisierung. Vielleicht können sie sich anders Gehör verschaffen: Sie können ihre Geschichte niederschreiben, sie können Erlebnisberichte verfassen, die von anderen öffentlich vorgetragen werde, sie können daheim Videos oder Tonbandaufnahmen machen.

- Sei weiter politisch aktiv. Finde Möglichkeiten, durch die deine betroffenen Freunde weiter mit dem Geschehen in Kontakt bleiben können, obwohl sie möglicherweise selbst nicht direkt involviert sind.

- Denk bitte bei all dem daran, daß deine Freunde selbst ihre Erholung vorantreiben müssen. Stülpe ihnen nichts über und behandele sie nicht wie Kinder, sondern hilf ihnen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.

Internetadressen

Eine andere gute Internetadresse zum Thema Trauma, mit weitern
Links und Buchtipps:

 http://healingtrauma.protest.net

Wir müssen uns umeinander kümmern. Wenn wir das tun, wird unsere Bewegung wachsen und stärker werden.

Nachbemerkung (M.H.)

Wie man hört, schlägt der deutsche Innenminister eine neue europaweite Spezialpolizei vor, die bei Auseinandersetzungen in der Art von Genua in Aktion treten soll. Sollte diese Spezialpolizei Wirklichkeit werden, würde das nach Lage der Dinge nichts anderes bedeuten, als daß die Hinweise von Starhawk in Zukunft immer wichtiger werden.

M. Hammerschmitt

 http://www.cityinfonetz.de/homepages/hammerschmitt/high.html
 http://www.cityinfonetz.de/homepages/hammerschmitt/low_linkskurve.html
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Ergänzungen

mehr info

hothead 07.08.2001 - 22:40
Ich persönlich würde auch mal unter dem Thema Vergewaltigung nachschauen, da gibts oft auch ne Menge allgemeinere Hinweise zum Posttraumatischen Syndrom, zum Trauma-Verarbeitungsverlauf und Tips für FreundInnen/Angehörige. Wenn es sich um feministische Texte handelt, dann ist auch das Element der Parteilichkeit für das "Opfer" noch mal stärker im Vordergrund, was evtl. für die Leute hilfreich sein kann, die sich mit zuviel "Verständnis" für die Bullen herumschlagen müssen (selber oder im Familienkries z.B.)...
Ganz generell würde ich (als erfahrene Angehörige von traumatisierter Person – akut und mit zeitlichem Abstand) sagen, dass es am wichtigsten ist, dass die Leute erstmal wieder Boden unter den Füssen kriegen, dass es weitaus mehr bringt, sie einfach weiter als erwachsene Menschen zu behandeln, anstatt einen überfürsorglichen Ausnahmezustand zu schaffen (Trauma-Verarbeitung kann verdammt lange dauern!!!Glaubt nicht, dass das in ein paar Wochen getan ist!). Unterstützung beim Selbermachen triffts glaub ich ganz gut...

P.S. Jetzt hab ich mir also die ganze Übersetzungsarbeit umsonst gemacht... naja, egal, Hauptsache, der Text ist da.

texte zusammenlegen?

hothead 07.08.2001 - 22:49
hallo zuständige? ist es evtl. möglich, diesen text mit dem original zusammenzulegen? dann wird nicht alles doppelt kommentiert...

Zweite Übersetzung

M. Hammerschmitt 07.08.2001 - 23:58
Hothead, du sagst, deine Übersetzungsarbeit sei durch meine Version überflüssig geworden. Das finde ich nicht. Vielleicht enthält deine Übersetzung Bedeutungsnuancen, die meiner fehlen. Veröffentliche sie doch bitte auch.

Grüße,

M. Hammerschmitt

 http://www.cityinfonetz.de/homepages/hammerschmitt/high.html
 http://www.cityinfonetz.de/homepages/hammerschmitt/low_linkskurve.html

was bitte ist daran esoterisch?

mdma 08.08.2001 - 01:29
ich finde darin nichts esoterisches wieder, oder ist es jetzt schon verdaechtig, wenn man sich um das wohlergehen von freundInnen und genossInnen sorgt und sich dafuer auch erprobter konzepte bedient?
versteh ich echt nicht...

Esoterik

M. Hammerschmitt 08.08.2001 - 10:00
Liebe(r) mdma,

mit den "esoterischen Bezügen" meinte ich die esoterischen Bezüge auf der Homepage von Starhawk. Die Adresse ist am Beginn des Textes angegeben.

Grüße,

M. Hammerschmitt

 http://www.cityinfonetz.de/homepages/hammerschmitt/high.html
 http://www.cityinfonetz.de/homepages/hammerschmitt/low_linkskurve.html

wird gemacht

hothead 08.08.2001 - 20:33
okay, werde meine übersetzung jetzt auch noch hier veröffentlichen. sie unterscheidet sich tatsächlich von deiner, marcus, wobei ich bei dir teilweise die erweiterten erklärungen schätze, auch wenn ich dich dafür kritisieren möcte, dass du sie nicht als anmerkungen von dir kenntlich gemacht hast... (da bin ich pingelig ;-) )
gruss,

Right you are

M. Hammerschmitt 08.08.2001 - 21:15
Kritik angekommen und angenommen.

Grüße,

Marcus